Sie kam wie eine Landpomeranze in die Hauptstadt Washington, eine nicht mehr ganz junge Southern Belle in Kindergartenkleidern und einem Haargetüm, in dem sich leicht ein Martini und gleich noch einer verstecken ließ. Sie redete nicht, sondern sang mit dieser unvergleichlichen Südstaatenstimme davon, wie patriotisch sie sei und wie wichtig es wäre, endlich gegen die Presse vorzugehen, die immer wieder Regierungsgeheimnisse verrate. Sie war stramm konservativ und eine gute Ehefrau, ihr Mann deshalb der intelligenteste in ganz Amerika, "vielleicht sogar der ganzen Welt". John Mitchell hatte nichts gegen dieses Kompliment, schließlich hatte ihn Richard Nixon zum Justizminister gemacht. Dafür diente er ihm 1972 als Manager in dem Wahlkampf, der den Präsidenten ein zweites Mal ins Weiße Haus bringen sollte.
Das Komitee zur Wiederwahl Nixons unternahm verschiedene Aktionen gegen die Konkurrenz, gegen die Demokraten, darunter den bis heute berüchtigten Einbruch in deren Hauptquartier im Watergate-Hotel. Die Einbrecher wurden erwischt, und es stellte sich heraus, dass ihr Anführer der Bodyguard der Mitchell-Tochter war. Die Netflix-Doku über Martha Mitchell ist daher nicht nur ein Film mit knallbonbonfarbenen Kleidern, barock ausladenden Autos und affigen Sonnenbrillen, sondern ein echtes, also schlimmes politisches Drama, eine Geschichte über den überhitzten Ruhm und das jammervolle Ende einer ganz bestimmt geltungssüchtigen Frau.
Frauen solidarisieren sich mit dieser Anti-Feministin, sogar Hippies demonstrieren für sie
Feminismus ist vor fünfzig Jahren der letzte Schrei in den USA, Gloria Steinem hat eben das Magazin Ms. gegründet, Erica Jong veröffentlicht 1973 "Angst vorm Fliegen", landauf landab werden Büstenhalter verbrannt, aber Martha Mitchell hält, wie es die unvergleichliche Tammy Wynette gefordert hatte, eisern zu ihrem Mann. Nicht er trägt die Schuld an dem Einbruch, nein, nein, das kam von ganz oben, das muss der Mann gewesen sein, den sie bis dahin liebevoll "mein Präsident" genannt und den sie ungefragt mit politischen Ratschlägen versorgt hat. Sie sagt das einer Journalistin ihres Vertrauens, sie sagt das im Radio, sie sagt es im Fernsehen und ahnt nicht, dass es ihr lieber, intelligenter Mann, dass es John Mitchell selber ist, der sie wie in einem viktorianischen Roman mit Gewalt zum Schweigen bringen will, der sie einsperren, sedieren und schlagen lässt. Mit Nixon, das ist auf den Tonbändern zu hören, mit denen der Präsident heimlich alle Gespräche mit seinen Mitarbeitern aufzeichnet, verabredet Mitchell, dass Martha für krank erklärt wird und ihr Mann gleichzeitig zurücktritt, "weil ihm seine Frau wichtiger ist".
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
Frauen solidarisieren sich mit dieser Anti-Feministin, sogar die von ihr verachteten Hippies gehen für sie auf die Straße. Martha Mitchell ist nicht aus den Zeitungen fernzuhalten, aber ihre Äußerungen werden nur auf den Klatschseiten gemeldet, niemand glaubt ihr, wenn sie vom staatlich angeordneten Verbrechen spricht, es ist zu unwahrscheinlich. Das gilt heute als "Martha-Mitchell-Effekt". Aber manchmal hat auch ein Paranoiker recht. Martha Mitchell hatte recht, stand auf einem Kranz an ihrem Grab. Es ist ihr nicht gut bekommen.
The Martha Mitchell Effect, bei Netflix.
Weitere Serienempfehlungen finden Sie hier .