Süddeutsche Zeitung

The European Review of Books:Die Idealisten

Eine Gruppe Niederländer und Amerikaner möchte eine europäische Kulturzeitschrift gründen. Warum das gerade jetzt genau der richtige Ansatz ist.

Von Nicolas Freund

Dass bisher noch niemand diese Idee hatte: eine Kulturzeitschrift, die Europas Vielsprachigkeit nicht als Hindernis, sondern als Chance begreift. Alle Texte erscheinen im Original und in englischer Übersetzung, die Autoren und Redakteure kommen aus ganz Europa und darüber hinaus. Norwegische Buchkritiken stehen zwischen der Wiederentdeckung eines ungarischen Philosophen und einem politischen Essay aus Frankreich. So stellen es sich zumindest die Gründer des The European Review of Books (ERB) vor. Ist das utopisch oder genau das, was das langsam zerbröckelnde Europa gerade braucht?

Obwohl der Titel nach den renommierten englischsprachigen Literaturzeitschriften London Review of Books und The New York Review of Books klingt, in denen oft seitenlange Kritiken das eigentlich besprochene Buch zum Anlass für ausschweifende Überlegungen nehmen, soll es im ERB nicht nur um Literatur und schon gar nicht nur um Buchkritiken gehen. George Blaustein, einer der Gründer des Magazins, möchte die inhaltlichen Grenzen erweitern, von der klassischen Kulturkritik hin zu Themen wie dem Bild Europas im chinesischen Kino und großen gesellschaftlichen Fragen, wie zum Beispiel, was es in verschiedenen europäischen Ländern bedeutet, Mutter zu sein. Zu diesem Europa gehört selbstverständlich auch noch Großbritannien. "Wir wollen ein Magazin machen, das sich europäisch nennt, aber nicht mit der EU identisch ist." Blaustein sitzt zum Videotelefonat über das ERB in seinem Büro an der University of Amsterdam, wo er Amerikanistik unterrichtet, und grinst beim Reden immer wieder sehr breit.

Viele Wissenschaftler haben etwas zu sagen, das nicht nur für Experten interessant ist

Bei Besuchen in Osteuropa und Gesprächen dort fiel ihm auf, dass es gerade in diesen Ländern ein großes Interesse an Texten von Intellektuellen gibt, die nicht nur für ein Fachpublikum geschrieben sind. Es gehe durch die akademischen Formate eine Menge Potenzial für gutes Schreiben verloren. Dabei haben viele Wissenschaftler etwas zu sagen, das nicht nur für Experten aus ihrem Feld interessant ist. "Dem möchten wir eine Stimme geben." Als ein Freund Blausteins von dem Plan erzählte, eine Literaturzeitschrift zu gründen, wurden beide Ansätze zum ERB zusammengeführt. "Als Magazin möchten wir Texte aus den verschiedenen europäischen Ländern veröffentlichen, die aber über Sprach- und Ländergrenzen hinweg geschrieben, übersetzt und redigiert werden." Und natürlich sollen im ERB nicht nur Wissenschaftler schreiben.

Blaustein ist eigentlich Amerikaner, geboren in Wisconsin, promoviert in Harvard und seit zehn Jahren in Europa. Er schreibt selbst für verschiedene Magazine wie N+1 und The New Yorker, was er befriedigender empfindet als das akademische Schreiben. Als Amerikaner hat er einen besonderen Blick auf Europa, der mitentscheidend war für das Konzept des ERB. Er beschreibt seine Erfahrungen aus den Niederlanden, wo Künstler und Intellektuelle in den heimischen Medien eine Art nationale Blase bilden, in der sie vor allem ihre eigenen Themen diskutieren, was sie aber nicht einschränkt, sondern gerade viele Freiheiten bietet.

Ähnliches hat er in anderen europäischen Ländern beobachtet. Aus diesen vielfältigen, nationalen Blasen möchte das ERB Autoren herausholen und einer europäischen Öffentlichkeit zugänglich machen. "Wir zielen auf eine gemeinsame und trotzdem vielsprachige, europäische literarische Kultur. Junge litauische Autoren wären wundervoll, junge italienische Autoren wären wundervoll. Aber ein European Review muss nicht nur von Europa handeln. Genauso, wie wir auch die nicht-nationalen Sprachen, wie zum Beispiel das Friesische, unterstützen wollen." Ebenso denkbar seien zum Beispiel Beiträge aus den und über die ehemaligen europäischen Kolonien. Die anderen Herausgeber neben Blaustein sind gerade vor allem Niederländer, perspektivisch soll es aber feste und freie Redakteure für alle europäischen Sprachen geben.

Das Magazin braucht Förderung - will aber unabhängig bleiben

Derzeit sind auf der Seite des ERB nur ein paar zusammengewürfelte, englischsprachige Artikel zu finden, darunter ein eklektischer Essay der Herausgeber über die mythologische Figur Europa, die von einem Stier über das Meer entführt wurde, außerdem eine Kurzgeschichte von Ali Smith über einen Nachbarschaftsstreit und ein kleiner Text über eine Zeichnung Goyas, die einen Esel zeigt, der in einem Buch voller Zeichnungen von Eseln liest. Man merkt, wohin die Reise des ERB gehen soll: Kulturkritisch, geisteswissenschaftlich und leicht ironisch kreisen die Texte um die Frage, was eigentlich Europa und seine Kultur ausmacht.

Richtig losgehen soll es im Herbst, dann werden online wöchentlich neue Texte erscheinen und dreimal im Jahr ein gedrucktes Magazin. Eine Crowdfunding-Kampagne brachte den Gründern fast 100 000 Euro ein, deutlich mehr, als sie angepeilt hatten. "Jetzt müssen wir es auch wirklich machen", scherzt Blaustein.

Förderungen gibt es außerdem noch von verschiedenen Kulturstiftungen, Übersetzerfonds und auch von der EU. Ein Thema, das Blaustein als Amerikaner ein wenig beschäftigt, denn in den USA wäre die öffentliche Förderung einer kritischen Publikation sofort mit dem Vorwurf der Einflussnahme verbunden.

In Europa und im Falle einer EU-Förderung sind Einflussnahmen durch öffentliche Subventionen unwahrscheinlich und auch für die Glaubwürdigkeit von Publikationen und Autoren kein Problem. Aber Blaustein geht es ums Prinzip: Das ERB soll natürlich kein dezidiert EU-kritisches Organ sein, es soll aber nicht nur Europäer zusammenbringen, sondern auch immer wieder infrage stellen, was Europa eigentlich ausmacht, und dazu gehört natürlich die Idee einer Europäischen Union. "Auch wenn es nur als ein kleines Magazin beginnt, könnte es eine ernsthafte Rolle bei der Entstehung einer robusten, gemeinsamen europäischen Kultur spielen, und zugleich muss es diese Idee kritisieren. Paradoxerweise ist diese Kritik notwendig für eine solche Kultur."

Jetzt fällt auf, wie sehr dem Europa der Gegenwart eine eigene mediale Öffentlichkeit fehlt. Ein akademisch geprägtes, europäisches Literaturmagazin wird den Kontinent natürlich nicht im Alleingang zusammenhalten oder auch nur diese Öffentlichkeit erzeugen können. Erfrischend idealistisch ist die Idee der Gründer aber trotzdem, Grenzen und Sprache zu überwinden, ohne sie zu negieren oder zu relativieren. Europas Vielfalt und auch Europas Spaltungen als Chance zu begreifen, nicht als Hindernis. Die Denkweise hinter dem Projekt ist zeitgemäß, einem Europa entsprechend, das an den einen Enden zusammenwächst und an den anderen auseinanderdriftet. "Es ist verführerisch, wegen solcher Dinge pessimistisch zu sein - Pessimismus ist manchmal unvermeidlich -, aber unser Magazin kann auch idealistisch sein, sogar utopisch", fasst Blaustein die Haltung des ERB zusammen. Dieser Idealismus klingt gerade genau richtig.

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