"The Defiant Ones" bei Netflix:Der Zügellose

"The Defiant Ones" bei Netflix: Der erste Hip-Hop-Milliardär: Dr. Dre und sein Geschäftspartner Jimmy Iovine wurden durch Kopfhörer reich.

Der erste Hip-Hop-Milliardär: Dr. Dre und sein Geschäftspartner Jimmy Iovine wurden durch Kopfhörer reich.

(Foto: Netflix)

Wer im Musikbusiness nicht irgendwann die Wege von Dr. Dre und Jimmy Iovine gekreuzt hat, der ist ein Niemand. Eine Netflix-Doku-Serie porträtiert zwei Irre, für die es niemals weniger als alles gab.

Von Julian Dörr

Ein Freitag im April 2014, Jimmy Iovine ruft seinen Geschäftspartner Dr. Dre an, es gibt Gerüchte, dass Apple Beats kaufen will, ihre gemeinsame Firma. Der geheime Deal, den die beiden in den Wochen zuvor mit dem Tech-Giganten ausgehandelt haben, wackelt. Iovine sagt Dre, was immer er auch tue an diesem Wochenende, er solle still halten, die Klappe halten. "Erinnerst du dich an Robert De Niros Charakter in 'Goodfellas'? Die Szene, in der er seinen Mafia-Jungs erklärt: Kauft keine Pelze. Kauft keine Autos. Protzt nicht rum." Dre antwortet: "Verstanden."

Freitagnacht, zwei Uhr, Iovines Telefon klingelt, P. Diddy ist dran: "Apple kauft Beats??". Der geheime Deal ist nicht länger geheim. Ein Video auf der Facebook-Seite von Dr. Dre hat ihn verraten. Darin zu sehen: eine stark alkoholisierte Siegesparty mit den Homies. Einer ruft: "Sie müssen die Forbes-Liste ändern! Die Scheiße hat sich geändert! So richtig! Der erste Milliardär im Hip-Hop, von hier, von der verdammten Westküste!"

Die vierteilige Netflix-Doku-Serie The Defiant Ones beginnt mit der im Nachhinein sehr unterhaltsamen Anekdote, wie ein besoffenes Facebook-Video den größten Deal in der Geschichte des Hip-Hop beinahe hätte platzen lassen.

Zwei arme Jungs nehmen den Weg aus der Gosse zu den Goldplatten

Von all den monströsen Dingen, die die Monster-Businessmänner, Monster-Produzenten und Monster-Innovatoren Dr. Dre und Jimmy Iovine geschaffen haben, ist das monströseste vielleicht: Beats Electronics. 2006 gründeten die beiden eine Kopfhörer- und Lautsprecherfirma. Wobei Beats Electronics als Kopfhörer- und Lautsprecherfirma zu bezeichnen, eine ungeheure Untertreibung ist. Vielmehr: eine Firma für urbane Statussymbole. Beats by Dre trug plötzlich jeder, der um die eigene popkulturelle Relevanz bedacht war. Vom Fußballspieler bis zum Laptop-Leiharbeiter im Großstadtcafé. 2014 kaufte Apple die Firma. Für drei Milliarden Dollar. Es war die größte Akquise in der Geschichte von Apple. Und Dr. Dre wurde tatsächlich zum ersten Milliardär im Hip-Hop.

Die Sache mit dem Facebook-Video ist dann doch gut gegangen. Weshalb nun alle Beteiligten über diese Anekdote schmunzeln können. Auch weil sie diese beiden Typen, überhaupt vielleicht das irrwitzigste und unwahrscheinlichste Paar des Pop, so wundervoll charakterisiert. Auf der einen Seite: Jimmy Iovine, der Rock-Produzent. Ostküsten-Italo-Amerikaner. Klein, schmal, zäh. Augenbrauen wie ein Urwald, Augenringe wie ein Kanalisationsschacht. Ein Trickser, ein Spieler, ein Gauner. Ein Kerlchen wie ein Möchtegern-Mafioso eben, aus einem Film von Martin Scorsese. Auf der anderen Seite: André Romelle Young, genannt Dr. Dre. Ein Berg von einem Mann. Der Hip-Hop-König von der Westküste, der Zügellose, der den Gangsta-Rap entfesselte.

Man kann an diesen beiden ganz problemlos die halbe Popgeschichte des vergangenen Jahrhunderts erzählen. Iovine, zu Beginn seiner Karriere als Toningenieur bei Bruce Springsteen, Produzent für Patti Smith, Tom Petty, U2, Lover von Stevie Nicks, Förderer von Nine Inch Nails, Marilyn Manson, No Doubt. Und Dre: Gründer von N.W.A., "Fuck Tha Police", Rap-Pionier, Soundtüftler, Entdecker von Snoop Dogg und Eminem. Keine Übertreibung: Wer im Musikbusiness nicht irgendwann die Wege von Dr. Dre und Jimmy Iovine gekreuzt hat, der ist ein Niemand.

The Defiant Ones erzählt natürlich eine ganz klassisch amerikanische Aufsteiger-Geschichte. Der Weg der armen Jungs aus der Gosse zu den Goldplatten. Der eine, Iovine, aus Red Hook, Brooklyn. Vater Hafenarbeiter, Großvater Hafenarbeiter. Der andere, Dre, aus Compton, Los Angeles. Die Mutter, schwanger mit 16. Der Vater, erst gewalttätig, dann abwesend.

Dr. Dre und Jimmy Iovine, zwei Trotzige, defiant ones, die ihr Ding machen, gegen alle Widerstände. Zwei Besessene, für die es niemals weniger als alles gab. Vor allem aber ist diese Doku die Geschichte von zwei Früh-und-für-immer-Begeisterten, die alle Menschen um sie herum mit einer niemals zweifelnden Liebe zur Musik anstecken. Die große Leistung dieser Serie liegt darin, dass es ihr gelingt, diese Liebe in Film zu übersetzen. The Defiant Ones lässt seine Zuschauer spüren, was Dre und Iovine spüren. Wenn einer von beiden wieder mit viel Furor über diese Produktion oder jenen Sound spricht, dann imitiert die Tonspur den Effekt, sie verlangsamt sich, sie kleidet sich in Hall, sie fließt vom linken auf den rechten Lautsprecherkanal.

Am Ende bleibt, nach mehr als vier Stunden voller Musik-Nerderei und Hammer-Anekdoten aus der Pop-Welt: die Geschichte von zwei Irren, die einfach immer ein Stückchen irrer waren als alle anderen.

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