Süddeutsche Zeitung

Terrormeldungen:Mittel gegen die Hysterie

Immer mehr Push-Benachrichtigungen vermitteln Unruhe und Unsicherheit. Wir sollten die Hysterie als Chance begreifen.

Von Carolin Gasteiger

Erst wechselt Leroy Sané zu Manchester City, dann verklagt der Freistaat Bayern Volkswagen wegen des Abgasskandals. Die beiden Push-Benachrichtigungen erschienen am Dienstagvormittag im Abstand von einer Stunde auf dem Smartphone-Display. Zwei Meldungen in einer Stunde, das wirkt entspannt, denkt man an die vergangenen Wochen zurück, als das Handy fast im Dauerton piepste. Als abwechselnd die News aus Nizza, Istanbul, Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach die Kanäle durchjagten.

Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski rief die Eilmeldung bereits zum Medium dieses Sommers aus. Trauriger, peinlicher Höhepunkt dieser sommerlichen Newsmaschinerie war die Meldung von vor sechs Tagen, im bayerischen Zirndorf (fränkische Kreisstadt, nicht mal 25 000 Einwohner) sei ein verdächtiger Koffer vor einer Flüchtlingsunterkunft explodiert. Innerlich wappnete sich jeder für das Schlimmste: wieder ein Anschlag in der bayerischen Provinz? Es war eine Spraydose, die verpufft war.

Trotzdem, oder gerade deswegen stellen sich Fragen: Verbreiten die Medien Panik, indem sie ihre Leser per Push-Benachrichtigung fast in Echtzeit an den Ereignissen teilhaben lassen? Werden wir immer hysterischer?

Mit einem Wort: Nein.

Was bedeutet Hysterie überhaupt? Ursprünglich, also Anfang des 19. Jahrhunderts, wurde Hysterie ausschließlich Frauen zugeschrieben, die mit ihrer Sexualität nicht klarkamen. "Hystera" bedeutet im Griechischen "Gebärmutter" und hysterische Reaktionen wurden damals als Hilferufe des weiblichen Körpers verstanden. Im engeren Sinne geht es um sexuelles Unbefriedigtsein, das sich in Lähmungserscheinungen, Hyperventilieren oder einer Art epileptischem Anfall äußert.

Frühe Zeichnungen zeigen Betroffene, die auf dem Rücken liegen und sich aufbäumen. Weiter gefasst bezeichnet Hysterie eine Persönlichkeitsstörung, durch die man die Realität kaum annehmen kann, durch die man einen Schein wahrhaben will, der den realen Verhältnissen nicht entspricht. Hysteriker wirken meist theatralisch, unecht, Hysterie nennen manche auch den "Clown unter den Neurosen".

Wenn man diese Vorstellung auf die Medien überträgt, die oft die ersten sind, denen Hysterie unterstellt wird, bedeutet das, sie zeichneten ein falsches Bild der Realität, würden die Welt also mit all den Eilmeldungen und Breaking News schwärzer malen als sie ist. Hysterisch bedeutet, nicht das Echte zu erkennen, sondern sich in ein falsches Bild hineinzusteigern. Eine Gefahr, die für Journalisten zweifellos besteht. Wenn sie ihre Quellen nicht überprüfen oder, wie in der Nacht des Amoklaufs in München, nicht offenlegen, wie viel noch unklar ist. Oder wenn sie, wie im Falle des Koffers von Zirndorf, sich keiner zweiten Quelle bedienen. Auf der anderen Seite sind auch Leser nicht vor Hysterie und daraus resultierender Schwarzmalerei gefeit: Im schlimmsten Fall bäumen sie sich im übertragenen Sinn auf anstatt ruhig zu bleiben, hören Schüsse, wo gar keine fallen, äußern Sätze wie "Jetzt kann es überall passieren", auch wenn die Wahrscheinlichkeiten statistisch gesehen immer noch verschwindend niedrig sind.

Hysterisch klingt das schon, hysterischer als früher sind wir jedoch nicht. Wo es früher Verlautbarungen auf Marktplätzen gab, blinkt heute Twitter auf, und der moderne Shitstorm hat deutliche Züge früherer öffentlicher Hinrichtungen, selbst wenn es nicht zum Äußersten kommt. Aber es ist inzwischen deutlich einfacher, hysterisch zu werden. Schlicht aufgrund des Informationsangebots. Wer sich in eine scheinbar düstere Welt hineinsteigern will, wurde früher von weitergeflüsterten Gerüchten bedient. Heute wird er im Netz auf unzähligen Seiten von Verschwörungstheoretikern fündig.

Hysterie hängt außerdem auch mit einer Lust am Zuschauen zusammen, durch die man immer mehr sehen, immer mehr lesen will. Bei der Band K.I.Z. heißt es "Und wir singen im Atomschutzbunker: Hurra, diese Welt geht unter!", Fünf Sterne deluxe rappen: "Die Leude woll'n, dass was passiert." Hysterische Anwandlungen? In gewisser Weise ja.

Hysterie kann auch von Vorteil sein. Etwa wenn man fragt, was dahintersteckt. Wenn wir uns also fragen, warum wir immer mehr über den Amokläufer von München wissen wollen, warum wir auf jede Push-Benachrichtigung anspringen. Warum vermuten wir hinter jedem verlassenen Koffer eine Bombe?

In einem Satz: Wir haben Angst.

Vielleicht, weil wir unsere freiheitliche Kultur bedroht sehen, die hart erkämpft wurde. Vielleicht, weil wir vor lauter virtueller die wahre Welt aus den Augen verlieren, weil es uns an echten Beziehungen fehlt, die beruhigend wirken und abstrakte Ängste lindern können. Bestimmt aber, weil es uns an Vertrauen fehlt.

An Vertrauen in uns selbst, in Medien und vor allem in uns als Gesellschaft. Wir haben das Vertrauen verloren, dass wir als Gesellschaft mit der Terrorbedrohung, möge sie nun alltäglicher geworden sein oder nicht, umgehen können.

Der verstorbene Frank Schirrmacher erläuterte nach dem Atomunfall von Fukushima, warum die deutsche Reaktion darauf keinesfalls als hysterisch verstanden werden darf, sondern als vernünftig. Weil die Deutschen darauf vertrauten, dass es auch ohne Atomenergie weitergehen kann. Und der Publizist und Unternehmensberater Matthias Horx schildert in einem Essay, wie die Finnen aus ihrer Wirtschaftskrise Anfang der Neunziger gestärkt statt gelähmt hervorgingen. Anfängliche Hysterie kann also auch mobilisieren und positive Auswirkungen haben.

Viele raten in diesen Tagen, gelassener zu werden, nicht überzureagieren. Vielleicht ist es ganz beruhigend, sich diese zwölf Phasen nach Terroranschlägen anzusehen - und darauf zu vertrauen, dass das Leben weitergehen wird.

Aber dieses "Gelassener-Werden" macht nur Sinn, wenn wir gleichzeitig versuchen, wieder zu vertrauen. Uns, den Medien (und genau auszuwählen, welchen wir vertrauen wollen), aber vor allem unserer freiheitlichen Gesellschaft, die die Terrorgefahr bewältigen wird - indem sie nicht in anhaltende Hysterie verfällt.

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