Süddeutsche Zeitung

Tatort "Kein Entkommen":Couragierte Annäherung an den Tod

Morbides Wien: Der Leichenkult nimmt einen besonderen Stellenwert ein, die Einheimischen sprechen gern von "ana schenen Leich". Im "Tatort" gibt es so viele "schöne Leichen" wie noch nie zuvor in einer Folge der Krimiserie. Mindestens 15 Tote sollen es sein. Was soll da noch schiefgehen.

Holger Gertz

In Wien wird der Kopfschmerz "Schädelweh" genannt, das passt zum Sound einer Stadt, in der alles abgründiger, schmerzvoller und aussichtsloser ist als anderswo. Der Wiener Chefinspektor Moritz Eisner leidet an Schädelweh, sein Husten ist ein Bellen, sein Niesen ein Peitschenknall. Er trägt eine Wollmütze, die ihm nicht steht.

Die Grippe geht um, die ganze Stadt liegt fiebernd im Bett. In Wien bedeutet das: Die ganze Stadt ist gedanklich bereits auf dem Weg hinaus zum Zentralfriedhof. Diese Episode nähert sich also dem Tod einerseits folkloristisch, andererseits mit blanker Entschlossenheit.

Serbisch-nationale Kriegsverbrecher machen Jagd auf einen Mann, der früher einer von ihnen war, dann desertierte er, ging nach Wien, jetzt will er auspacken: Mirko Gradic hat in einer Kladde notiert, was er und seine Gefährten damals im Krieg getan haben, wie viele Menschen sie ermordeten, vergewaltigten; für wen sie Gräber ausgehoben haben.

Es kommt zu zahlreichen Exekutionen in diesem bemerkenswerten Tatort, Regisseur Fabian Eder lässt Dunkelmänner sterben, aber auch Polizisten und Sicherheitsleute. Der Film ist ein Thriller, stark verdichtet, dabei spinnt er doch vor allem das weiter, was tatsächlich geschehen ist und nach wie vor gärt.

Die vielen unerzählten Geschichten aus dem Balkankrieg. Die vielen nicht vergessbaren Bilder. Die Traumatisierten oder vom Krieg Berührten, die es nach Wien verschlagen hat, wo sie Tschuschen genannt werden, das hört sich auch im speziellen Klang dieser Stadt nicht zärtlich an.

Harald Krassnitzer (Moritz Eisner) und Adele Neuhauser (Bibi Fellner) sind ein sehr feines Ermittlergespann, beide vom Leben ein paar Mal bei 90 Grad durchgewaschen. Jetzt passen sie gut aufeinander auf, denn die Dramaturgie lässt das Warme immer neben dem Kalten existieren.

Einmal liest Gradic seinem kleinen Sohn eine Gutenachtgeschichte vor. Sie handelt von Fischen, die wie Menschen sind, sie wagt sich vor an den Kern: "Denn ich bin: Ich weiß nicht wer, schwimme hin und schwimme her. Schwimme her und schwimme hin, möchte wissen, wer ich bin."

Dieser Tatort erzählt eine große Geschichte, wie alle großen Geschichten handelt sie vom Verlieren und Verlorengehen. Und wie alle großen Geschichten endet sie nicht mit dem Gewinnen oder Gefundenwerden.

Am Ende huschen zwei Schatten ins Bild, die schweigend erzählen, dass alles noch abgründiger, schmerzvoller, aussichtsloser werden kann. Nicht nur in Wien.

ARD, Sonntag 20.15 Uhr.

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SZ vom 04.02.2012/mapo/pak
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