TV-Ereignis: "Tatort" aus München:Selbstjustiz, Abscheu und Wut
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Das Geheimnis um den Mörder wird im neuen "Tatort" unüblich früh gelüftet. Ein beklemmend guter Fernsehkrimi.
Werner Bartens
Dieser Münchner Tatort stellt das Genre auf den Kopf, denn er fängt da an, wo andere Krimis normalerweise aufhören. Man verfolgt nicht das übliche Whodunit und weiß um 21.15 Uhr, dass die unwahrscheinlichste Nebenrolle in den letzten fünf Minuten zum Mörder befördert wird.
In diesem Krimi steht der Täter fünf Minuten nach Beginn vor Gericht, Zeit also für den üblichen Schnitt, einen Halt an der Imbissbude und ein paar flotte Sprüche der Kommissare. Abspann. Auftritt Anne Will.
"Nie wieder frei sein" ist anders. Zwar wissen alle, dass der von Shenja Lacher großartig gespielte Angeklagte auch tatsächlich der Mörder und Vergewaltiger ist. Doch aufgrund eines juristischen Fehlers der beiden Kommissare Batic und Leitmayr bei den Ermittlungen kann das entscheidende Beweisstück nicht verwendet werden.
Die mit Lisa Wagner glänzend besetzte strebsame Pflichtverteidigerin des Mörders macht ihren Job peinigend gut, schüchtert das Vergewaltigungsopfer erfolgreich ein, und der Angeklagte wird freigesprochen. Eine furiose Jagd auf Täter und Opfer beginnt.
Regisseur Christian Zübert (Buch: Dinah Marte Golch) führt den Zuschauer gekonnt an der Nase herum. Er spielt mit Ekelgefühlen, Vorurteilen und dem dumpfen Volksempfinden, lässt aber auch Raum für das Entsetzen, das der emotional völlig verwahrloste Täter auslöst. Selbstjustiz, Wut, Abscheu haben hier ebenso Platz wie Angst, Mitleid und Empörung über die Tücken des Rechtsstaates.
Der Irrsinn und die Spur der Verwüstung, die eine Vergewaltigung hinterlassen, sind bis in die Nebenrollen gut gezeichnet. Da ist nicht nur das von Anna Maria Sturm gespielte Opfer, sondern auch ihre Familie, der man mal alles zutraut und sie dann nur bemitleidet. Großartig Antje Widdra als Schwester eines Vergewaltigungsopfers, das der Täter umgebracht hat.
Sie dringt in die Familie des anderen Opfers ein, als deren Tochter gerade verschwunden ist und man nicht weiß, ob sie noch lebt. Wie sie erst helfen und Trost spenden will und dann immer brutaler und verletzender wird, das ist von beeindruckender Intensität und Uneindeutigkeit.
Auch beim Vater des Täters, den Tilo Prückner sehr derangiert gibt, weiß man nie, wie gewalttätig er wirklich ist oder ob da nur ein armes Würstchen an seinem Sohn verzweifelt. Dieser Film ist zu schlau, um Schuldzuweisungen zu verteilen oder sich in Sozialer-Brennpunkt-Romantik zu verlieren.
Die Ambivalenz färbt sogar auf das Ermittler-Duo ab. Batic und Leitmayr müssen sich nicht durch Münchens Abgründe raufen und witzeln wie sonst so oft. Zwar gibt es auch diesmal Handgreiflichkeiten, Schreiereien und Verfolgungsjagden, soviel Imagepflege muss sein. Doch zusätzlich hadern die Polizisten mit sich und der Justiz und überschreiten schon mal Grenzen polizeilicher Ermittlung.
Am Ende gibt es natürlich einen Täter. Aber auch der könnte überraschend freigesprochen werden und damit zum Beginn eines neuen Tatorts werden.
Tatort - "Nie wieder frei sein", ARD, Sonntag, 20.15 Uhr.