Netflix-Serie "Tanz":Der Körper lügt nicht

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Akram Khans Arbeiten belegen den Einfluss des indischen Traditionstanzes und der Londoner Postmoderne. (Foto: Netflix)

Die Dokuserie "Tanz" zeigt unbedingt politische, unbedingt gegenwärtige Choreografen und ihre Arbeiten.

Von Dorion Weickmann

Das Virus hat auch Akram Khans Pläne durchkreuzt. Nach monatelanger Plackerei mussten seine Tänzer Mitte März 2020 ohne ihn und vor leeren Sitzreihen auftreten. Nur die Kamera war Zeuge. Im leeren Auditorium sichtet sie zwei reservierte Plätze, für den Choreografen und seine Mutter Anwara. Beide sitzen jedoch in London fest, so verpassen sie Khans Uraufführung "Father - Vision of the Floating World" in Dhaka. Und damit die Erfüllung eines Traums: Zurückzukehren zu den Wurzeln der Eltern, die nach England emigrierten und festhielten an der Kultur ihrer bengalischen Heimat. Und damit auch am indischen Traditionstanz Kathak, den sie ihren Kindern beibrachten. Bis der halbwüchsige Akram rebellierte: gegen Rassismus und Gewalt auf den Straßen Londons und gegen dieses kulturelle Erbe.

Tanz ist nur bedingt ein sexy Thema, jedenfalls dann nicht, wenn damit die Kunstgattung gemeint ist. Viele denken an elitären Ballettsnobismus, vielleicht noch an die New Yorker Postmoderne in den Siebziger-, Achtzigerjahren. Das Streaming-Portal Netflix belehrt nun eines Besseren: es zeigt eine ausgesprochen attraktive fünfteilige Dokuserie zum Thema. "Move" - so lautet der Originaltitel, der eingedeutscht leider zum biederen "Tanz" geworden ist - porträtiert fünf Kreativköpfe, die ihre ererbten oder antrainierten Tanzstile revolutioniert haben. Akram Khan also hat den Kathak zeitgenössisch eingeschmolzen, Israel Galván den Flamenco vom Machismo befreit. Ohad Naharin verabschiedet ästhetische Schablonen und triggert Energieströme, Lil Buck und Jon Boogz holen den Streetdance aus dem Ghetto ins Department der Fine Arts. Bei den Frauen haben die Netflix-Macher allerdings recht lieblos kuratiert. Kimiko Versatile überzeugt zwar als Dancehall-Granate und postkoloniale Feministin, aber der Erkenntnisertrag ihrer Auftritte fällt bescheiden aus. Avantgardistinnen wie Anne Teresa De Keersmaeker oder Louise Lecavalier hätten eine deutlich stimmigere Besetzung abgegeben.

Hervorragend bringen die französischen Regisseure Thierry Demaizière und Alban Teurlai dagegen das Widerstandspotenzial zur Geltung, das dem Tanz in allen Spielarten innewohnt: Der Körper lügt nicht, er ist die Essenz des Lebens, Spiegel der Gesellschaft und Ich-Instrument - er ist Natur wie Kultur gleichermaßen. Tanzen steht für politische Brisanz und privates Vergnügen, für einen Emanzipationsprozess, der in den begleitenden Gesprächen Kontur gewinnt. In allen Folgen berichten die Mütter, wie sie dem tanzbesessenen Nachwuchs zur Ablösung verhalfen. Während die Väter, so sie überhaupt präsent waren, das Abschütteln der Traditionsfesseln beargwöhnten. Trotzdem brachen Khan & Co aus der Familienblase aus.

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Eindrucksvoll auch, wie die "Move"-Optik mit der Kunstphilosophie des Gegenübers spielt. Für Ohad Naharin ist Tanzen "ein intimer Vorgang, ein Moment der Stille im Auge des Orkans". Aber die Kamera zeigt ihn fast nie allein, oft als Animateur ganzer Turnhallen. Israel Galváns irrwitzig knallenden Zapateados, sein Stampfen und Klappern mit den Schuhsohlen, dann Lil Bucks beredte Füße, Akram Khans Drehungen in Derwischmanier - all das bleibt wie ein großes Ausrufezeichen stehen. Genauso die Gesichter der jungen Tänzer in Dhaka, die im Frühjahr noch ohne Mund-Nasen-Schutz und Abstand performen. Ewigkeiten ist das her. Der Tanz wird Corona überleben, weil er sich immer wieder neu erfindet. "Move" ist der beste Beweis dafür.

Tanz, bei Netflix.

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