SZ-Serie "Spezialauftrag":Tango durch den Bankrott

SZ-Serie "Spezialauftrag": Argentinien, so heißt es, steht mal wieder vor dem Bankrott. Aber was hilft das schon? Beim Tango ist jeder Schritt Improvisation, ein neues Wagnis, nur eines darf man nicht: stehen bleiben.

Argentinien, so heißt es, steht mal wieder vor dem Bankrott. Aber was hilft das schon? Beim Tango ist jeder Schritt Improvisation, ein neues Wagnis, nur eines darf man nicht: stehen bleiben.

(Foto: LUIS ROBAYO/AFP)

Unterwegs mit Journalisten, die immer über etwas berichten, das nur in ihrem Land ein großes Ding ist. Diesmal: Der argentinische Tango-Journalist.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Fernando del Priores Karriere begann mit einer vorgehaltenen Pistole. Damals, Anfang der Nullerjahre, taumelte Argentinien gerade in einen Staatsbankrott, Supermärkte wurden geplündert, es gab täglich Demonstrationen auf den Straßen von Buenos Aires. Del Priore aber hatte dennoch Großes vor, er war Mitte zwanzig und hatte gerade erst sein eigenes Tonstudio eröffnet, mit Geld, das er über Jahre zusammengespart hatte. Ein kleines Vermögen steckte da nun in Equipment, in Instrumenten, Mikrophonen, Kabeln und Aufnahmegeräten. Eine Investition in die Zukunft, glaubte del Priore, eine leichte Beute, dachten dagegen die Männer, die da jetzt vor ihm standen.

Sie hatten sich ausgegeben als Musikgruppe, interessiert daran, eine Aufnahme zu machen. Statt Gitarren und Noten hatten sie aber eine Pistole mitgebracht, und nun lag del Priore gefesselt in einer Ecke, während die Diebe sein Studio ausräumten. "Schön war das nicht", sagt del Priore heute, zwanzig Jahre später. "Aber es musste ja irgendwie weitergehen". Und so wurde der Argentinier zu dem, was er heute ist: Tango-Journalist.

Es ist ein Dienstagvormittag Anfang August, Südhalbkugelwinter, grau hängt der Himmel über Buenos Aires. Fernando del Priore sitzt im Café de los Angelitos, draußen, vor dem Fenster, schieben sich Autos über die Avenida Rivadavia, eine der Hauptverkehrsadern der argentinischen Millionenmetropole. Drinnen warten Kellner in schwarz-weißer Livre auf Bestellungen, einen cortado für den Herrn, der am Tisch hinten in der Ecke Zeitung liest, ein paar süße medialunas für die älteren Damen, die plauschend gleich neben dem Eingang sitzen.

Tango war verpönt, ein Auswurf der Gosse, geplatzte Träume, in Noten gegossen, mit Texten, die von der Tragik des Lebens erzählten

Das Café de los Angelitos ist heute eine altehrwürdige Institution mit Holztresen und Samtvorhängen. 1890 aber, als es eröffnete, war es kaum mehr als eine Kaschemme in einem Armen- und Arbeiterviertel. Halbstarke und Ganoven trafen sich hier, Zuhälter und Prostituierte, gescheiterte Einwanderer und entwurzelte Gauchos. Sie tranken und sie tanzten, zu Musik, die damals noch verpönt war, Tango, ein Auswurf der Gosse, geplatzte Träume, in Noten gegossen, mit Texten, die von der Tragik des Lebens erzählten, von überfüllten Mietskasernen und unerwiderter Liebe. "Es gibt keinen Trost mehr für mich", singt Carlos Gardel in Mi noche triste, "darum stürze ich mich in den Alkohol, um die Liebe zu dir zu vergessen."

Jahre später wurde der Tango weltweit populär, Gardel zu einem der berühmtesten Sänger des Genres und seine Stammkneipe, das Café de los Angelitos, selbst zur Legende. Heute blickt Gardel von einer großen Schwarz-Weiß-Fotografie von der Wand, neben ihm all die anderen Größen, Troilo, Piazzolla, Pugliese, De Angelis. Fernando del Priore kennt sie alle, manche hat er sogar noch live gesehen, auf Konzerten, auf die ihn sein Vater immer mitgenommen hat.

47 Jahre alt ist Fernando del Priore, Drei-Tage-Bart und erst graue Strähnen im Haar. Die Liebe zum Tango wurde ihm gewissermaßen in die Wiege gelegt. Sein Vater, Oscar del Priore, ist so etwas wie die Graue Eminenz der Tango-Berichterstattung in Argentinien, ein Radiomoderator, der bis heute eine eigene Sendung hat und dazu noch ein gigantisches Plattenarchiv.

SZ-Serie "Spezialauftrag": Ein Porträt von Tangolegende Carlos Gardel.

Ein Porträt von Tangolegende Carlos Gardel.

(Foto: Natacha Pisarenko/AP)

Mit seinem Vater also fing alles an, sagt Fernando del Priore: Wenn die großen Rundfunkorchester spielten, nahm er ihn mit, genauso wie auch in die Bars und Tangokneipen, wenn die Legenden dort Konzerte gaben. "Mein Vater hatte mir extra einen Anzug schneidern lassen", sagt del Priore, "ich fand es als Junge immer toll, wenn ich mit ihm mitkommen durfte."

Doch als Jugendlicher will Fernando del Priore dann doch lieber Rockmusik hören. Damals, in den 80er- und 90er-Jahren, galt der Tango in Argentinien als Musik für ältere Herrschaften und Senioren, sogar das Café de los Angelitos musste für ein paar Jahre schließen. Gleichzeitig aber gab es eine treue Fangemeinschaft, nicht nur in Buenos Aires, wo der Tango vor mehr als hundert Jahren entstanden ist, sondern weltweit. Viele Liebhaber suchten nach ganz speziellen Aufnahmen, nach Liedern von Schallplatten, die längst nicht mehr zu kaufen waren, gleichzeitig aber fast immer in der Plattensammlung von Fernando del Priores Vater zu finden waren. "Ich habe dann Anzeigen in Zeitungen aufgegeben und in Tango-Cafés Zettel aufgehängt", erzählt del Priore: "Tango-Aufnahmen nach Wunsch". Bald riefen die ersten Kunden an mit genauen Vorgaben, del Priore suchte im väterliche Archiv, ging rüber zum Kassettenrekorder und drückte auf "Record".

Del Priore träumte von einem Tonstudio - doch dann kamen Diebe, und Argentinien stürzte in einen Staatsbankrott

Ein gutes Geschäft sei das damals gewesen, sagt del Priore, genug, um etwas anzusparen, und genug, um die Geräte und Instrumente zu kaufen für das Tonstudio, von dem er träumte. Doch dann kam alles anders, statt Musikern kamen Diebe, und kurz danach stürzte Argentinien dann endgültig in den Staatsbankrott, es war nicht der erste und es sollte auch nicht der letzte sein.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Tango auch in Argentinien erfunden wurde, diesem riesigen und eigentlich unendlich reichen Land. Die Prachtboulevards im Zentrum von Buenos Aires zeugen noch von dem alten Glanz, doch auf jedes Hoch folgte in Argentinien bisher immer wieder auch ein Tief, mal geht es abwärts, dann wieder aufwärts. Welch besseren Soundtrack könnte es hierfür geben als den Tango?

Für Fernando del Priore kam nach den Dieben wieder eine neue Chance mit dem Angebot einer Bekannten: Ob er nicht Lust habe, ebenfalls im Radio zu moderieren, so wie sein Vater? Erst arbeitete del Priore nur am Wochenende, er suchte Platten aus, erzählte von Tango-Sängern und den Geschichten hinter den Liedern. "Mir hat das alles Spaß gemacht", sagt er, er beginnt eine Ausbildung zum Sprecher, studiert die Geschichte des Tangos.

Fernando del Priore unterrichtet heute Kurse an der Universität über Tango-Texte, er arbeitet als Moderator bei Veranstaltungen und dazu hat er weiterhin Sendungen in Tango-Radios, von denen es gleich mehrere gibt in Buenos Aires und in Argentinien.

Sogar in Japan würden Tango-Fans seine Sendung hören, sagt del Priore

Sein Publikum, sagt Fernando del Priore, sei eher älter, schließlich würden viele junge Menschen heute einfach kein Radio mehr hören, und auch in Argentinien lieber Trap statt Tango. Dass der am Ende ganz stirbt, glaubt Fernando del Priore dagegen nicht. "Es gibt eine treue Szene", sagt er, nicht nur hier, in Buenos Aires, sondern weltweit. Er wisse von Fans, die über das Internet sogar in Japan seine Sendung hören.

Gerade arbeitet Fernando del Priore mit Studenten an einem Tango-Podcast, er plant ein Buch und wer weiß, vielleicht schreibt er irgendwann ja mal selbst einen Tango? "Das wäre schön", sagt er, vor sich die leere Kaffeetasse.

Draußen, vor dem Fenster, zieht der Verkehr vorüber, zäh und langsam, wahrscheinlich ist irgendwo ein paar Straßen weiter wieder eine Umleitung, wegen einer Baustelle oder wegen einer der Demonstrationen, die derzeit fast täglich stattfinden. Argentinien, so heißt es, steht mal wieder vor dem Bankrott, die Wirtschaft des Landes steckt in einer schweren Krise, die Inflation könnte dieses Jahr die 100-Prozent-Marke knacken. Aber was hilft das schon? Am Ende muss man dennoch weitermachen, so wie beim Tango, jeder Schritt ist Improvisation, ein neues Wagnis, nur eines darf man nicht: stehen bleiben.

Weitere Folgen aus der SZ-Serie "Spezialauftrag" finden Sie hier.

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