Talkshows in der Corona-Krise:Sprechstunden der Nation

Lesezeit: 3 Min.

Ort der neuen Sachlichkeit: Das Studio von Anne Will in Berlin. (Foto: Wolfgang Borrs/NDR)
  • Die Corona-Krise hat die politischen Talkshows verändert: Wo sonst gern populistisch verkürzt und übertönt wird, hört man sich jetzt fast andächtig zu.
  • In den Sendungen konzentriert man sich momentan mehr auf die Vermittlung von Informationen als auf das Austragen von Debatten.
  • Neben der Dramatik der Umstände wird die sachliche Atmosphäre der Sendungen getragen von dem Umstand, dass kein Publikum mehr zugelassen ist.

Von Thomas Hummel

Es ist ein merkwürdiger Fernsehmoment. Ein, zwei Sekunden lang herrscht Stille im ARD-Studio von Hart aber Fair. Die Krankenschwester Stefanie Büll hat gerade erzählt, dass in ihrer Uniklinik in Düsseldorf zwar derzeit genug Schutzausrüstung für das Personal da ist, um die mit dem Coronavirus infizierten Patienten zu betreuen. Noch. Aus anderen Krankenhäusern höre sie, dass sich Kollegen Einmal-Schutzkittel teilten. Moderator Frank Plasberg bedankt sich für die Worte.

Dann: Schweigen im Talkshow-Studio.

Kein Klatschen, kein Räuspern, nichts, das Publikum ist wegen der Pandemie längst aus den Studios verbannt. Bis Plasberg sagt: "Manchmal ist man ein bisschen sprachlos." Sein Format heißt "politische Talkshow", Plasberg verstand darunter bislang immer, sein Publikum auch zu unterhalten. Doch von einer "Show" ist im Zeichen des Virus wenig übrig geblieben, politisch wird es angesichts einer einvernehmlichen oder schweigenden Opposition kaum. Und selbst der Talk versiegt bisweilen angesichts der Lage. In all den Abendrunden von ARD und ZDF gewinnt man derzeit den Eindruck: Wo sonst gern populistisch verkürzt und übertönt wird, hört man sich jetzt fast andächtig zu. Die Talkshows sind zu Sprechstunden der Nation geworden.

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Die Unsicherheit ist groß, das Bedürfnis nach Information auch. Und so landet ein großer Teil des Landes momentan abends beim Talk: Mehr als vier Millionen Menschen sahen bei Plasberg an diesem Montag zu, Maybrit Illner kam vergangene Woche auf mehr als 3,8 Millionen, Quotenkönigin Anne Will auf zuletzt 5,75 Millionen. Das sind Zahlen, wie sie nur in spektakulären Zeiten erzielt werden - oder in Ausnahmefällen nach großen Fußballspielen.

Das ZDF produzierte zwei Sondersendungen mit Maybrit Illner zu Corona, das Erste dehnte Hart aber Fair auf zwei Stunden aus und sendete zur Primetime um 20.15 Uhr, die Fragen der Zuschauer spielten eine größere Rolle als sonst. Aufklärungsarbeit in der Praxis Plasberg.

Zur veränderten Atmosphäre in den Studios sagt Moderatorin Anne Will der SZ: "Das große Interesse der Zuschauerinnen und Zuschauer zeigt uns, dass das Informationsbedürfnis immens ist - das wissen auch unsere Gäste im Studio und konzentrieren sich auf die inhaltliche Debatte." Doch welche Debatte eigentlich?

Derzeit hat offensichtlich kein Politiker Lust, sich öffentlich zu streiten

Ein Großteil der Gäste ist in diesen Tagen mit dem Mitteilen von Erkenntnissen beschäftigt. Virologen etwa, die neuen Stars des Landes. Ohne die Expertise von Christian Drosten, Alexander Kekulé, Melanie Brinkmann oder Jonas Schmidt-Chanasit kommt keine Sendung mehr aus. Daneben sitzen Krankenpfleger, Klinikleiterinnen, Vertreter von Gesundheitsämtern oder Ärzteverbänden, geben Einblicke, stellen Prognosen vor.

Für Diskussionen wären eigentlich Politiker zuständig. Allerdings hat von denen derzeit offensichtlich keiner Lust, sich öffentlich zu streiten. Als Anne Will den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder gerade befragte, wie sehr er sich mit seinem nordrhein-westfälischen Amtskollegen Armin Laschet bei der Frage über Ausgangs- oder Kontaktsperren zerstritten habe, antwortete der eigentlich keineswegs konfliktscheue Söder: "Gar nicht. Es geht doch jetzt um eine ganz tiefernste Sache. Es geht um Leben und Tod." Ob sich Laschet nicht doch durchgesetzt habe in der Ausgestaltung der neuen Anordnungen? Auf die Nachfrage rüffelte Söder: Ob sie es "wirklich angemessen" finde zu fragen, "wer an welche Stelle setzt sich mehr oder weniger durch?" Ähnlich erging es kaum eine Stunde später ZDF-Moderatorin Maybrit Illner in einer Corona-Sondersendung mit Laschet. Auch der CDU-Politiker ließ sich zu einem Streit kein scharfes Wort entlocken.

Neben der Dramatik der Umstände wird die sachliche Atmosphäre der Sendungen getragen von dem Umstand, dass kein Publikum mehr zugelassen ist. Neben leeren Fußballstadien waren leere Fernsehstudios ein erstes Zeichen für das Ausmaß der Krise. Moderatorin Sandra Maischberger sagt dazu: "Natürlich geben die Menschen, die im Studio dabei sind, der Sendung eine emotionale Dichte. Durch ihre Reaktionen, manchmal auch durch Applaus."

Noch Mitte März wurde Anne Will live in der Sendung von der Ärztlichen Leiterin des Charité Centrums, Claudia Spies, aufgeklärt, dass ihre Gäste viel zu nah aufeinandersäßen. Seitdem ist Abstand angesagt, etwa zwei Meter, in allen Shows. Ob etwas davon bleiben wird, von der Sachlichkeit, der Friedfertigkeit? Maischberger sagt: "Wir blenden die Debatte keineswegs aus, wenn nötig, wird bei uns auch gestritten." Auch Anne Will meint, dass rund um die Richtlinien der Bundes- und Landesregierungen sowie die Belastbarkeit des Gesundheitssystems kontrovers argumentiert werden könne. Bleibt abzuwarten, wann sich der Erste darauf einlässt.

© SZ vom 27.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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