Talk bei Anne Will:"Unsere Obergrenze für Flüchtlinge liegt bei null"

Anne Will, Heiko Maas

Talk vor dem EU-Gipfel (v.l.): Katrin Göring-Eckardt (B90/Die Grünen), Richard Sulík (SaS, Slowakischer Europa-Abgeordneter), Heiko Maas (SPD), Anne Will (Moderatorin).

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Der Zwist zwischen Österreich und Deutschland in der Flüchtlingspolitik? Ein Klacks, wenn man dem slowakischen Vertreter bei "Anne Will" zuhört.

TV-Kritik von Deniz Aykanat

Ist Europa noch zu retten?, fragt Anne Will vor dem Beginn des EU-Flüchtlingsgipfels mit der Türkei in ihrer Talksendung. Fazit nach einer Stunde Diskussion: Zumindest Teile davon.

Zu Gast sind Justizminister Heiko Maas, Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt, Linken-Chefin Katja Kipping und der slowakische EU-Abgeordnete Richard Sulík. Und obwohl es in der Beschreibung zur Sendung vorab so aussah, als stünden Österreich und die Slowakei Seite an Seite als "Team Balkanschließung" dem deutschen "Team EU-Lösung" gegenüber, so verliefen die Konfliktlinien am Sonntagabend doch ein wenig anders.

"An irgendeine Grenze werden Flüchtlinge nun mal kommen"

Einem Teil von willigen Staaten, denen das derzeit etwas verstimmte Duo Deutschland und Österreich vorsteht, liegt nämlich etwas an der EU als Wertegemeinschaft - zumindest wenn man den Gästen Maas und Kurz glauben will.

Deutschland war nicht begeistert von Österreichs Alleingang, die Grenzen nur noch für ein bestimmtes Tageskontingent an Flüchtlingen zu öffnen. "Das ist keine nachhaltige Lösung. An irgendeine Grenze werden Flüchtlinge nun mal kommen. Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, das Gerede über Obergrenzen wird nicht helfen", sagt Maas.

Zu Beginn der Sendung lässt Anne Will Bilder aus Idomeni einspielen. Tausende Flüchtlinge sind dort unter erbärmlichen Zuständen an der mazedonisch-griechischen Grenze gestrandet, weil die Balkanroute mit der Grenzschließung Österreichs nun endgültig dicht ist. "Diese Bilder sind furchtbar, aber es geht auch nicht ohne sie", sagt Österreichs Außenminister Kurz. Schutz für Flüchtlinge sei klar. Das große Problem sei aber das Durchwinken. "Die Suche nach Schutz auf der einen Seite und nach einem besseren Leben auf der anderen sind verschwommen."

Dass einige wenige EU-Staaten nicht alle Flüchtlinge aufnehmen können, darin sind sich von den anwesenden Grünen, Linken und Sozialdemokraten tatsächlich mal alle einig. Selbst Kipping schafft es nicht, auf Anne Wills Frage, ob ihrer Meinung nach alle Flüchtlinge aufgenommen werden sollten, mit einem klaren Ja zu antworten.

Sie spricht ohnehin lieber darüber, dass es SPD-Politiker im Gegensatz zu Grünen und Linken immer noch nicht geschafft haben, sich in abgeriegelten Städten in Südostanatolien blicken zu lassen, um ein Zeichen gegen die türkische Regierung zu setzen. Doch auch sie weiß keine wirkliche Alternative zu Gesprächen mit der Türkei.

In einem Punkt herrscht aber Klarheit unter den deutschen und österreichischen Gästen: Flüchtlinge müssen aufgenommen werden. Und Waffengewalt anzuwenden, um Flüchtlinge von Grenzen fernzuhalten, muss ein Tabu bleiben.

"Tränengas einzusetzen ist okay. Grenzen müssen geschützt werden. Unsere Obergrenze für Flüchtlinge liegt bei null", fällt Sulík dazu ein. "Wovor muss die EU denn bitte geschützt werden? Das sind Frauen, Männer, Kinder, die vor dem Krieg fliehen", entgegnet ihm Göring-Eckardt. "Feiern Sie doch mal Silvester in Köln", lautet Sulíks Antwort. Der Slowake macht klar, was für ihn ein sinnvoller politischer Diskurs ist.

Das ist der große Unterschied, der die durchaus unterschiedlichen Maas, Kurz, Göring-Eckardt und Kipping auf die eine Seite des Grabens in der Europäischen Union schlägt und Sulík auf die andere Seite. Zwar gibt es selbst innerhalb Deutschlands oder Österreichs große Gegenbewegungen und Verwerfungen. Man denke an die CSU, die wöchentlich ihrer eigenen Regierungskoalition in den Rücken fällt, von Pegida und AfD gar nicht zu sprechen. Und auch Österreich ist nicht arm an inneren Spannungen. Doch in beiden Ländern scheinen sich die Regierungen, die etablierten Parteien noch einem Bildungsauftrag verschrieben zu haben. Nicht alles, was Volkes Wille ist, ist auch gut. Nicht alles muss und darf Wählerstimmen geopfert werden.

Das ist ein Wert, von dem man annehmen dürfte, dass er zur Grundausstattung der EU gehört. Zumindest gehören sollte. Am eindrucksvollsten führt das derzeit die Kanzlerin vor, die gerade ihren bislang sagenhaften Ruf in Deutschland und der Welt für das opfert, was sie als "mein Europa" ansieht.

"Es ist unsere Pflicht das zu tun, was der Bürgerwille ist"

Das Gegenteil dessen erlebt man live und in Farbe bei Anne Will. "Ich denke nicht, dass es eine Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlinge gibt. Die Bürger wollen es nicht und es ist unsere Pflicht das zu tun, was der Bürgerwille ist", sagt Sulík. "Ja und wenn Ihre Bürger nicht mehr in der EU sein wollen?", will Maas wissen. Darauf hat der slowakische EU-Abgeordnete die lapidare Antwort: "Dann gibt es darüber eben ein Referendum." Politik kann so einfach sein.

Mehr als ein "die sollen in der Türkei bleiben und da versorgt werden" hat Sulík im Laufe der Gesprächsrunde auch nicht zu bieten. Wenn der Gipfel ein wenigstens kleiner Erfolg sein soll, muss man sich wohl auf die immer öfter beschworene Koalition der Willigen verlassen. Und auf die Türkei.

Die türkische Regierung führt einen Krieg gegen die eigenen Leute im Südosten des Landes und tritt die Pressefreiheit mit Füßen, Kipping und Göring-Eckardt haben recht, wenn sie immer wieder betonen, dass die EU einen zu hohen Preis für einen Deal mit Ankara zahlt. Sicher, in EU-Staaten wie Polen, Ungarn und der Slowakei herrschen nicht annähernd solche Zustände wie in der Türkei. Doch es herrscht eine derart feindselige Stimmung gegenüber Flüchtlingen, dass man sich fragt, welchen Preis die EU denn dafür bezahlt, solche Staaten zu ihren Mitgliedern zu zählen.

"Die EU ist keine Solidargemeinschaft, sondern eine Vertragsgemeinschaft", betont Sulík vehement. Damit hat er leider recht. Mit welcher Nonchalance er das herausplärrt, zeigt aber auch, dass ihm wie den meisten anderen Regierungen östlich von Deutschland auch nicht viel daran liegt, daran etwas zu ändern. Von Solidarität ist in dieser Union wahrlich nicht mehr viel zu spüren. In Sulíks Heimat ist übrigens gerade die rechtsextremistische Partei Unsere Slowakei mit acht Prozent ins Parlament eingezogen.

Wäre es besser mit allen, also auch mit den Visegrád-Staaten, eine Lösung bei diesem Gipfel für die Flüchtlingskrise zu finden? Ein klares Ja. Ist es in absehbarer Zeit realistisch, dass so eine Lösung gefunden wird? Eher nicht. Langwierige Verhandlungen wie beim drohenden Grexit können sich Syrer in Todesangst und durchgefrorene Flüchtlinge in Idomeni nicht leisten.

Was bleibt nach einer Stunde Anne Will also zu erwarten vom EU-Gipfel? Der Kern der Gemeinschaft muss neu verhandelt werden. Beim Treffen in Brüssel wird dafür aber keine Zeit sein. Man muss sich also auf das Mögliche konzentrieren.

"Die EU konnte sich immer einigen. Sei es bei der Euro-Krise oder der Griechenlandkrise. Da ging es immer ums Geld. Jetzt geht es um Menschen. Wenn wir nur noch ein Wirtschaftsclub sind, dann wäre das der Anfang vom Ende der EU", sagt Maas. Österreichs Außenminister Kurz gibt sich zuversichtlich, dass der heutige Gipfel nicht das Präludium zu einem Niedergang ist.

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