Nordsyrien vor ein paar Monaten. Der junge Kämpfer hat Augen wie Samt und einen für Rebellen eher ungewöhnlichen Geschmack. Er trägt Tanktop, Lederarmbänder, Baseballmütze, Jeans mit Union- Jack-Sticker. Und Handschellen. Handschellen? "Er ist schwul", sagt Mahmud H.: "Schwule lieben Accessoires." Mahmud, Journalist, 37, ist selbst schwul. Und er ist Syrer. Er weiß, dass Sätze wie dieser lebensgefährlich sind. Für ihn wie für den anderen. Deshalb hat er ein Schwulen-Magazin im Internet herausgegeben. Das erste in Syrien, vielleicht im ganzen Nahen Osten. Mawaleh. Nüsse.
"Die Autoren dieser Zeitschrift widersetzen sich dem Gesetz und der syrischen Gesellschaft, sie widersetzen sich den Traditionen, dem Krieg, dem autokratischen Regime und den Bewaffneten auf beiden Seiten", heißt es darin. Soeben ist die vierte Ausgabe erschienen. Ein Schwulen-Magazin im Syrien-Krieg. Ist das wirklich nötig?
Unbedingt, sagt Mahmud, gerade jetzt. Vor dem Aufstand wurde Homosexualität in Syrien meist geduldet, man traf sich in Cafés und auf privaten Partys. Allein in Damaskus umfasste die Szene 2000 Schwule und Lesben. "Aber jetzt sind alle panisch, weil nach dem Sturz des Regimes die Islamisten an die Macht kommen könnten." Bei Aleppo verschleppten Rebellen der "Freien Syrischen Armee" einen Schwulen und zwangen ihn, Namen von anderen Männern zu verraten. "Sie wollen das islamische Recht anwenden, gewinnen sie, werden sie über uns herfallen." Aber auch das sozial so offene Assad-Regime griff Schwule an: nach politischen Krisen wie dem Kampf gegen die Muslimbrüder und dem Massaker in Hama Anfang der 80er oder bei Razzien vor zwei Jahren, als die Szene zu groß wurde und zu offen auftrat. Entsprechend düster sieht Mahmud die Zukunft: "Egal wie der jetzige Krieg ausgeht, sie werden uns umbringen."
Und deshalb kommt Mawaleh keinen Tag zu früh, deshalb müssen Syriens Schwule Flagge zeigen, sich gegenseitig beweisen, dass sie nicht allein sind, demonstrieren, dass auch sie zur syrischen Gesellschaft gehören, dass auch sie Rechte haben, mit Artikeln über schwule Doppelleben und Coming-outs, oder von brutalen Bekehrungs- oder Heilungsversuchen durch die Familien oder die Kirche.
Fünf schwule und zwei lesbische Autoren schreiben regelmäßig für Mawaleh. Bis auf Mahmud, der in der Türkei wohnt, leben alle in Syrien und nutzen ein Pseudonym. Keiner bekommt Geld. Keiner weiß vom anderen. Außer Mahmud. Sollte einer in die Hände des Assad-Regimes oder der radikalen Islamisten fallen, so die Abmachung, dann werden sie seinen Namen nennen, um sich zu retten. Mahmud hat im Ausland gelebt, bis er 18 Jahre war, dann kehrte er zurück nach Syrien. Er redet nicht mit jedem darüber, dass er schwul ist, aber er lügt auch nicht: "Wenn mich jemand fragt, verschweige ich es nicht, ganz gleich was passiert. In gewisser Hinsicht wird das Leben dadurch leichter", sagt er.
Und riskanter. Mahmud reist regelmäßig nach Syrien zu den Aufständischen, und er erkennt seinesgleichen unter den Rebellen, selbst wenn jene sich niemals outen könnten. Manche wagen es dennoch, ein bisschen wenigstens. "Einer der Kämpfer hat mir zu unserem Magazin gratuliert", berichtet er: "Ich sagte ihm: Was machst du bei diesen religiösen Typen? Sie werden dich töten. Aber er sagte, er kämpfe gegen Assad, was sei daran falsch?" Unter den Gefallenen des Aufstandes, sagt Mahmud, sind auch Schwule. Aber im überreizten, aggressiven Klima in Syrien ist die Online-Zeitschrift eine noch größere Provokation als zuvor.
Von Mawaleh gibt es eine arabische und eine englische Ausgabe, die erste besuchten mehr als 8000 Leser, Tausende lasen die folgenden. Viele ergingen sich in wüsten Beschimpfungen, aber manche schrieben auch Ermutigendes. Wieder andere fragen, wo denn die neue Ausgabe bleibe, wenn Mahmud und seine Autoren in Verzug sind, wegen des Krieges. In der ersten Ausgabe wurde erklärt, was der Name soll, "Nüsse" - dass er an Pistazien und Mandeln, Haselnüsse und Cashew erinnern soll, an die vielen Sorten, die in Syrien überall zu haben sind. Und so beliebt. Mahmud weiß, dass Syrien weiter denn je von jener bunten Gesellschaft entfernt ist, in der Schwule und Lesben angstfrei leben können. Er weiß, dass Intoleranz in der ganzen Region die Ideologie der Stunde ist, nicht nur in Syrien. Aber er lebt, als sei das jetzt mal schlicht nicht seine Sache. "Wenn du ein Problem mit meiner Sexualität hast, dann geh!"