Süddeutsche Zeitung

Streamingdienste:Pantoffelkino

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Mit dem alten Geschäftsmodell des DVD-Verleihs verdient das Unternehmen Netflix in den USA nebenbei noch immer erstaunlich viel Geld.

Von Jürgen Schmieder

Netflix-Chef Reed Hastings erwähnt diese erstaunliche Zahl eher beiläufig, als er Mitte März mit Reportern auf dem Firmengelände in Los Angeles über die Entwicklung des Unternehmens von einem DVD-Verleiher, der Filme per Post an seine Kunden verschickte, zum Streamingportal plaudert. "Das dürfte Sie nun vielleicht überraschen", sagt er lachend: "Wir haben in den Vereinigten Staaten immer noch mehr als zwei Millionen DVD-Abonnenten - denen wir ganz herzlich für ihre Treue danken möchten."

DVD, das klingt zunächst einmal wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit, wie Schallplatte oder Schreibmaschine. Und doch gibt es 2,7 Millionen Amerikaner, die sich nach wie vor diese silberfarbenen Scheiben in einem roten Umschlag nach Hause liefern lassen und sie dann per Post zurückschicken. Besser noch, vor allem für Netflix: Das Unternehmen hat mit diesem Segment im vergangenen Jahr 365,6 Millionen Dollar eingenommen und einen Gewinn von 212,5 Millionen Dollar erzielt. Kein Wunder, dass Hastings jedem einzelnen Abonnenten herzlich dankt.

Es gibt verschiedene Gründe für diesen anhaltenden Erfolg. Einen davon kennt jeder, der auf verschiedenen Streamingportalen schon mal nach genau diesem einen Film oder dieser einen Serie gesucht hat: Die Auswahl ist begrenzt, es fehlen vor allem jene Filme, die kürzlich im Kino gelaufen und damit popkulturelles Gesprächsthema sind. "Wir schaffen es wegen unserer Kinder nicht mehr so häufig, einen Film tatsächlich im Kinosaal zu sehen", sagt zum Beispiel Patrick Tasto aus Los Angeles, seit mehr als zehn Jahren Netflix-DVD-Abonnent und mittlerweile auch Streaming-Kunde: "Wir leihen vor allem neue Filme aus und solche, die für Oscars nominiert sind. Es ist immer noch sehr bequem, weil der Briefkasten nur ein paar Meter von der Couch entfernt ist."

Die Streamingbibliothek von Netflix hat viele Titel, aber ein paar echte Highlights fehlen

Die Netflix-Streaming-Bibliothek, in deren Vergrößerung vor allem durch eigene, exklusive Inhalte das Unternehmen in diesem Jahr bis zu 15 Milliarden Dollar investieren will, verfügt über etwa 6000 Titel. Das ist viel und weit mehr, als ein Mensch in seinem ganzen Leben gucken kann. Es fehlen allerdings Filme wie "A Star is Born", "Bohemian Rhapsody" oder "Green Book", neben der Netflix-Eigenproduktion "Roma" die prägenden Werke der vergangenen Oscar-Verleihung. Im DVD-Angebot sind sie allesamt enthalten, wie übrigens alle 91 Werke, die jemals mit dem Oscar als bester Film ausgezeichnet worden sind.

Insgesamt soll es Schätzungen zufolge - Netflix selbst veröffentlicht dazu keine Zahlen - mehr als 100 000 verschiedene Titel geben. Das Angebot gilt unter Film-Connaisseuren als vollständigste Leih-Videothek der Welt. Es gibt sogar Inhalte von Konkurrenten wie zum Beispiel die Serie "The Handmaid's Tale", ein Prestigeprojekt des Portals Hulu.

Der DVD-Verleih von Netflix funktioniert so, dass der Kunde eine Liste anlegt und nach dem Zurückschicken der einen DVD möglichst innerhalb eines Werktages den nächsten verfügbaren Film oder die nächste verfügbare Serie im Briefkasten hat. "Ich kümmere mich darum, die Wunschliste für meine Familie aktuell zu halten", sagt Tasto. Der Grundpreis liegt bei acht Dollar pro Monat, das ist nur ein bisschen mehr als der Preis für digitale Ausleihen. Beim Apple-Angebot iTunes zum Beispiel kostet "Green Book" sechs Dollar. Wer 15 Dollar pro Monat bezahlt, der bekommt Inhalte im Blue-Ray-Format und darf zwei Filme oder Serien gleichzeitig bestellen: "Wir könnten diese Filme auch digital abrufen, bei der Masse allerdings ist es für uns als Familie ökonomisch sinnvoller, den DVD-Verleih zu nutzen."

Es lohnt sich also für den Kunden, zumal es mittlerweile durchaus kostspielig sein kann, bei mehreren Streamingportalen jeweils Abos abzuschließen, nur weil man diese eine Serie oder diesen einen Film sehen möchte. Es gibt ja nicht nur Netflix, Amazon Prime, Youtube, CBS, HBO, Apple und Hulu, sondern bald auch Plattformen von Disney und Warner Media - und natürlich Quibi, das Gemeinschaftsprojekt der ehemaligen Hewlett-Packard-Enterprise-Chefin Meg Whitman und von Dreamworks-Gründer Jeffrey Katzenberg. Wer überall dabei sein möchte, kommt auf einen dreistelligen Betrag pro Monat. Da klingt das Netflix-DVD-Angebot plötzlich eher günstig.

"Die meisten Leute haben einfach vergessen, dass sie noch DVD-Verleih-Abonnenten sind."

Es gibt noch einen weiteren Grund für den anhaltenden Erfolg des Filmversands auf dem klassischen Postweg: Streaming in hoher Bildqualität ist datenintensiv, einer Studie der Analysefirma Sandvine zufolge ist Netflix im Jahr 2018 für 15 Prozent des kompletten Internet-Datenvolumens in den USA verantwortlich gewesen. Allerdings hat das amerikanische Handelsministerium kürzlich eine Studie veröffentlicht, nach der 24 Millionen Amerikaner noch immer keinen Zugang zu Breitband-Internet und damit zu ruckelfreien Streamingbildern haben. "In unserer Gegend funktioniert Streaming ganz einfach nicht", sagt Dana Palmateer aus dem US-Bundesstaat South Dakota dem TV-Sender CNN: "Den Einwohnern unserer Stadt bleibt nichts anderes übrig, als weiterhin DVDs zu leihen."

Es ist auffällig, dass sich bei Netflix, bis auf diesen kleinen Zwischensatz von Hastings, niemand zur DVD-Verleih-Sparte äußern möchte, die vor acht Jahren von der Streaming-Abteilung abgekoppelt worden ist. Es gibt nur einen wirklichen Konkurrenten (Redbox, dessen Automaten an Tankstellen und in Supermärkten zu finden sind). Die Gewinne sind ordentlich, auch wenn "DVD-per-Post-Verleih" arg nach Vergangenheit klingt: Warum nicht über dieses noch immer sehr erfolgreiche Geschäftsmodell reden?

Die Verleih-Sparte ist trotz der hohen Kosten für den Versand profitabel. Wie das funktioniert? Es gibt zwar Stammkunden wie Patrick Tasto, dennoch kündigen etwa 200 000 Leute pro Quartal ihr Abo. "Sie versuchen, den Service möglichst geräuschlos sterben zu lassen", sagt ein ehemaliger Netflix-Mitarbeiter. Nicht ganz unwichtig für den weiter hohen Gewinn in dieser Sparte sei auch eine banale Tatsache: "Die meisten Leute haben ganz einfach vergessen, dass sie noch immer DVD-Verleih-Abonnenten sind."

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SZ vom 18.05.2019
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