Süddeutsche Zeitung

Streamingdienst:Wie Netflix tickt

Bei Netflix entscheidet der Zuschauer, was läuft. Damit dieses Prinzip funktioniert, sammelt das Unternehmen Daten - und führt Tests durch, ohne dass es der Kunde überhaupt merkt. Ein Besuch in der Konzernzentrale.

Von Jürgen Schmieder, Los Gatos

Auf dem Tisch. In der Hand der Mitarbeiterin. Umgedreht im Regal. Wer das Hauptquartier des Streamingdienstes Netflix im kalifornischen Los Gatos besucht, der fühlt sich, als hätte ihn jemand ins Kinderbuch Wo ist Walter? transportiert. Nur geht es hier nicht darum, auf Wimmelbildern den wunderbaren Weltenbummler Walter zu finden, sondern in jedem Raum diese weiße Tasse mit der roten Aufschrift I heart Netflix. Auf dem Boden. In der Spüle. Neben dem Projektor. Natürlich ist das Spiel Blödsinn - doch wie jeder gute Nonsens transportiert auch dieser eine Wahrheit: Nichts ist diesem Unternehmen wichtiger, als von den Kunden geliebt zu werden.

Eine virtuelle Bibliothek mit passendem Qualitätsprogramm

Sie sind schon recht weit gekommen dabei. Nicht erst durch den Gewinn bedeutender Preise für eigene Serien wie House of Cards oder Orange is The New Black gilt Netflix als liebreizender Revoluzzer im Kulturbetrieb. Durch Expansion, im vergangenen September auch nach Deutschland, gibt es weltweit mehr als 62 Millionen Kunden. Es sollen noch viel mehr werden. Ende kommenden Jahres soll der Dienst überall auf der Welt erreichbar sein, wo es technisch möglich und juristisch erlaubt ist.

Netflix und andere Streamingportale wie Hulu oder Amazon Prime verändern gerade grundlegend, wie Menschen bewegte Bilder konsumieren. "Changing Cultures" ist so ein Begriff, den man beim Besuch mindestens so oft hört, wie man eine dieser Tassen mit dem roten Herz darauf sieht. Fernsehen, das klingt nach einem Typen im Unterhemd, der gelangweilt durch Kanäle schaltet und sich berieseln lässt. Netflix gucken, das klingt nach gebildetem Hipster, der eine virtuelle Bibliothek betritt und das zu ihm passende Qualitätsprogramm wählt.

"Zu ihm passend", das ist noch so ein Begriff, der immer wieder zu hören ist. Er gehört zum Netflix-Glaubensbekenntnis "Data doesn't lie" - Daten lügen nicht. Todd Yellen, zuständig für Produktinnovationen, sagt: "Unsere Religion ist der wissenschaftliche Zugang." Sie wollen ihre Kunden verstehen, das funktioniert am effizientesten durch das Sammeln von Daten. Sie führen Tests durch, ohne dass der Kunde es überhaupt merkt.

Etwa: Welches Titelbild einer Serie führt dazu, dass mehr Menschen einer Serie treu bleiben? Die Kunden bekommen sechs Designs vorgesetzt, nach kurzer Testzeit wird der Sieger gekürt. Die Entscheidung trifft nicht mehr der Senderchef, sondern die Masse der Kunden. Ohne Ausnahme.

"Die meisten Daten sind ein Berg voller Müll mit ein bisschen Gold darin"

Wer viel über seine Angebetete weiß, dem fällt es leichter, ihr zu imponieren. Das gilt nicht nur für die Balz, sondern auch beim Kundenfang. Bei Netflix führt das bisweilen zu Widersprüchen - vor allem, wenn bekannt ist, dass der Besucher aus Deutschland kommt. Hach, diese Deutschen mit ihren Bedenken um Datenschutz, sagen sie dann zaghaft lächelnd. Nur wenige Daten würden gesammelt, heißt es, und die auch nur, um das Netflix-Erlebnis zu verbessern.

"Die meisten Daten sind ein Berg voller Müll mit ein bisschen Gold darin", sagt Yellen: "Wir müssen keine Werbung verkaufen, wir bitten unsere Kunden auf Knien, mehr Zeit bei uns zu verbringen." In einem anderen Raum dagegen prahlen die Mitarbeiter bei der Frage nach den Vorteilen gegenüber klassischer Marktforschung und Einschaltquoten, dass sie doch recht viel wissen über den Kunden. Wann er einschaltet. Wann er pausiert. Wer welche Serie wie lange guckt.

Durch andere Tests wie etwa das Messen der Augenbewegungen durch eine Spezialbrille finden sie heraus, welchen Bereich des Bildschirms der Zuschauer bei der Wahl des Programms benutzt (fast ausschließlich den unteren mit den kleinen Titelbildern). Über im Gesicht und an den Händen angebrachte Elektroden bemerken sie, wann der Kunde genervt ist vom Browsen (recht schnell); über erfundene Filme, wie viel er auf die Sterne-Bewertungen anderer Kunden gibt (recht wenig).

Neben all den Tests haben sie im vergangenen Jahr 15 Millionen Umfragen verschickt, die zwölf Mitarbeiter des Bereichs Kundenverständnis sind 1,2 Millionen Kilometer gereist und haben die etwa 50 Millionen Einträge bei Twitter analysiert.

Das führt zu durchaus interessanten Erkenntnissen wie etwa, dass der Familien-Fernsehabend gerade eine Renaissance erlebt. Popcorn brutzeln, einen Film wählen, miteinander auf der Couch sitzen, das soll angeblich neuerdings das sein, was einst das Abendessen war. Netflix hat analysiert, welche Produkte sowohl Kindern als auch Erwachsenen gefallen könnten, und dann mit dem Komiker Adam Sandler eine Kooperation über vier Filme geschlossen sowie eine Fortsetzung der Familienserie Full House in Auftrag gegeben.

Natürlich kann so ein Projekt trotzdem scheitern. Von drei Milliarden Dollar für Inhalte pro Jahr gibt Netflix etwa 300 Millionen für 320 Stunden eigene Projekte aus, da kann durchaus mal was nicht funktionieren. Auf die Frage nach einer Eigenproduktion, die die Erwartungen nicht erfüllt hat, zucken sie nur mit den Schultern und grinsen. Darüber will niemand reden. Sie veröffentlichen auch keine Einschaltquoten bei Netflix.

Netflix ist vollkommen auf die Liebe seiner Kunden angewiesen

Sie wirken selbstbewusst und demütig zugleich und verbinden so Hollywood mit Silicon Valley. Die wichtigsten Fernsehpreise, die Emmys, sind für die technischen Kategorien in Los Gatos ausgestellt, während die für den künstlerischen Bereich im kürzlich eröffneten Büro in Beverly Hills zu bestaunen sind. Der Produzent J. Michael Straczynki, gemeinsam mit den Wachowski-Geschwistern verantwortlich für die Serie Sense8 (Start 5. Juni), darf schwärmen, dass ein derart aufwendiges Projekt, an dem unter anderem Tom Tykwer mitwirkte, "nur bei Netflix möglich ist" - befreit vom Zielgruppen-Druck der Werbung.

Zugleich wird auf typische Silicon-Valley-Gimmicks wie den Automaten für Gratis-Büroelektronik hingewiesen. Oder darauf, dass Firmenchef Reed Hastings noch nicht einmal ein Büro besitzt, sondern ständig herumläuft und sich mit Mitarbeitern trifft.

Sie wollen daherkommen wie ein cooles Start-up. Wenn man aber oben auf einer Brücke steht und das Gelände in Los Gatos überblickt, wenn man an die 1300 Mitarbeiter hier und die etwa 500 in Beverly Hills denkt, dann wird einem klar, wie gewaltig diese Firma mittlerweile geworden ist - und dass sie die selbst produzierte oder eingekaufte Ware umschlagen muss. Dass Netflix also vollkommen darauf angewiesen ist, dass die Kunden es lieben.

Und zwar am besten über alle Maßen: Es gibt hier den Begriff Netflix Adultery - der beschreibt, dass jemand seinen Partner betrügt, indem er Folgen von Serien alleine guckt. Sie haben ein witziges Werbefilmchen gedreht, in dem es zum Streit in einer Beziehung kommt, Programmchef Ted Sarandos sagt augenzwinkernd: "Wir bezahlen keine Paartherapie."

Am Ende erhält der Besucher dann noch ein Geschenk für Zuhause. Es ist natürlich die Tasse mit I heart Netflix darauf.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2492823
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 26.05.2015/ckoo/jobr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.