Streaming:Wir müssen reden

Packende Folgen, die alle praktisch nur in einem Verhörraum spielen - wie soll das gutgehen? Die Serie "Criminal" ist ein meisterhaftes Experiment, das in vier Ländern spielt.

Von Kathrin Hollmer

Wenn im Film zu viel geredet wird, ist das meist: kein gutes Zeichen. Denn wo nur gelabert wird, passiert nicht viel. Das gilt insbesondere für das in Deutschland heiß geliebte Krimi-Genre, in dem regelmäßig die gleichen Dialoge heruntergebetet werden. Für das Prinzip der neuen Anthologie-Serie Criminal von Netflix ist Skepsis also erst mal angebracht. Hier ist alles schon passiert, es geht um Verbrechen, die teils 30 Jahre zurückliegen. Und nun wird alles in einem Verhörraum besprochen. Langweilig?

Keinesfalls. Criminal besteht aus vier Folgen, die alle in einem Netflix-Studio in Madrid aufgezeichnet worden sind, aber in vier Ländern spielen. Teams aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien haben je drei Folgen in ihrer jeweiligen Landessprache gedreht. Die komplette Serie spielt im selben Verhörraum, und beinahe nur darin, im Nebenzimmer, in dem Polizisten die Verhöre durch einen Einwegspiegel verfolgen, und vor dem Kaffee- und Snackautomaten auf dem Flur.

Erfundene Alibis, falsche Geständnisse - und ganze Lebensgeschichten in 45 Minuten

Ganze Lebensgeschichten werden da erzählt, in je 45 Minuten. Die Fälle sind abgeschlossen, gemeinsam haben sie nur, dass am Schluss immer alles anders ist, als es zunächst zu sein scheint. Im Verlauf werden erfundene Alibis und falsche Geständnisse aufgedeckt, Verdächtige entlastet und wieder belastet. Horizontale Erzählstränge über die verschiedenen Teams werden nur angedeutet, in den deutschen Folgen etwa soll eine externe Ermittlerin (Eva Meckbach) das Verhör-Team (unter anderem gespielt von Sylvester Groth und Florence Kasumba) evaluieren. Die Beobachter werden selbst beobachtet. Warum, bleibt unklar.

Streaming: In Criminal haben nicht nur die Verdächtigen Geheimnisse, auch in den Ermittlerteams aus vier Ländern ist nichts, wie es zu sein scheint.

In Criminal haben nicht nur die Verdächtigen Geheimnisse, auch in den Ermittlerteams aus vier Ländern ist nichts, wie es zu sein scheint.

(Foto: Netflix)

Nötig ist das in allen Teams. Denn nicht nur die Verdächtigen lügen, auch die Ermittler haben etwas zu verbergen: Fehlentscheidungen, Vertuschungen, Zeugen, die unter Druck gesetzt worden sind oder werden.

Einer der Showrunner des Projekts ist George Kay, der mit Killing Eve schon neue Maßstäbe im Agententhriller gesetzt hat. In Criminal sind Verhörszenen zur eigenen Kunstform erhoben. Während deutsche Krimis mit Verhördialogen oftmals langweilen, ist das in anderen Ländern bereits das Beste an Produktionen.

Die BBC2-Serie Line of Duty, in der es um interne Ermittlungen gegen bestechliche Polizisten geht, wird für ihre intensiven Verhörszenen bejubelt. In der Netflix-Serie Mindhunter geht es um FBI-Agenten, die verurteilte Serienmörder befragen und analysieren. Die Szenen sind eindringlich, psychologisch ausgefeilt und basieren auf echten Befragungen.

Criminal ist die konsequente, die radikalste Weiterentwicklung dessen. Die gesamte Serie ist Verhör, Kriminalfälle werden auf das Wesentliche verdichtet: die Frage, warum Menschen tun, was sie tun, was sie zu dem macht, was sie sind - Mörder, Betrüger, Schlepper. Nicht einmal Rückblenden gibt es. Revolutionär. Und manchmal bis zur Unerträglichkeit beklemmend.

"Mir war nicht klar, dass die wegmüssen", sagt eine Mörderin (Nina Hoss) über die Mädchen, die sie für ihren Mann angelockt hat. Er hatte diese vergewaltigt und getötet. Die deutschen Folgen hat der Regisseur Oliver Hirschbiegel nach den Büchern von Bernd Lange und Sebastian Heeg inszeniert. Dass Criminal so packend ist, liegt an den perfekt orchestrierten Kämpfen im Verhörraum, an tollen Schauspielern, in den deutschen Folgen ist außer Nina Hoss auch Peter Kurth zu sehen.

Und im britischen Team gibt es einen Polizisten, der die Verdächtigen einfach anschweigt. David Tennant, bekannt als Doctor Who und aus den Serien Broadchurch und Jessica Jones, spielt in den britischen Folgen einen Stiefvater, der seine Stieftochter zu Netball-Spielen fuhr, bis sie mit eingeschlagenem Schädel im Wald gefunden wurde. Beinahe einen ganzen Tag wird er verhört und sagt die halbe Episode lang nur "Kein Kommentar", weil er sich auf sein Alibi verlässt und darauf, dass er nur 24 Stunden befragt werden darf.

Eine französische Folge wagt sich kritisch, aber einfühlsam an die Anschläge auf die Pariser Konzerthalle Bataclan von 2015. Für das Privatleben der Ermittler, das im deutschen Krimi immer mehr Platz einnimmt, ist da kein Platz. Noch ein so ein Vorteil, wenn an sich auf das Wesentliche beschränkt.

Criminal, auf Netflix.

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