ARD-Themenwoche "Stadt.Land.Wandel":Nichts wie weg

Lesezeit: 5 Min.

Reise in die Utopie: Der Dokumentarfilm "Wir alle das Dorf" zeigt die Entstehung eines Orts im Wendland, wo Alte, Junge und Geflüchtete in bezahlbaren Häusern zusammenleben. (Foto: Koberstein Film/NDR)

In der Metropole kann man krank und irre werden, auf dem Dorf nur irre einsam? Die ARD widmet der Gesellschaft zwischen Stadtflucht und Landflucht eine Themenwoche. Und dem Glück dazwischen.

Von Gerhard Matzig

Hier kommt die eine oder andere schlechte Nachricht für alle Menschen, die in Berlin, Hamburg, München oder anderen großen Städten leben. Wer in einem Ballungsraum wohnt, trägt beispielsweise ein höheres Risiko, an Schizophrenie zu erkranken. Nachzulesen ist das in dem Buch des Psychiaters Mazda Adli: "Stress and the City: Warum Städte uns krank machen". Abgesehen davon werden Städte gerade von der heftigsten Wohnungsnot seit dem Zweiten Weltkrieg heimgesucht. Außerdem sind Städte nicht nur Haupttäter des Klimawandels, sondern auch Hauptopfer. Zum Beispiel in Form sommerlicher Hitzewellen. Und vom Stau auf dem Mittleren Ring in München ist ja noch nicht mal die Rede.

Laut Philosoph Paul Virilio sind Metropolen zudem die "Achillesfersen unserer Zivilisation", weil sie zu Austragungsorten des "metropolitischen Terrorismus" werden. Zusammengefasst: Wer nicht an Schizophrenie erkrankt, während er völlig sinnlos in München-Schwabing eine günstige und zugleich menschenwürdige Wohnung sucht, der kollabiert im Sommer. Vermutlich im Stau auf dem Mittleren Ring. Oder wird irgendwann zum Opfer eines Anschlags. Das Leben in den Städten ist nicht leicht. Das hat keine Zukunft. Es gibt daher viele Menschen wie zum Beispiel die Schriftstellerin Juli Zeh (vormals Leipzig, jetzt Barnewitz), die aus den apokalyptischen Städten fliehen, um auf dem verheißungsvollen Land zu leben.

In Tuntenhausen oder Bad Sülze gibt es womöglich weniger Schizophrenie, aber auch weniger Ärzte für die Diagnose

Leider gibt es auch die eine oder andere schlechte Nachricht für alle Menschen, die in Barnewitz oder auf Dagobah am äußeren Rand der Galaxis leben. Dagobah ist ein Sumpfplanet aus dem Star-Wars-Universum. Dagobah kann auch Tuntenhausen, Obermoschel oder Bad Sülze sein. Es ist generell leider auch so, dass es im ländlichen Raum nicht nur weniger Schizophrenie, sondern auch immer weniger Ärzte gibt, die eine solche diagnostizieren können. Es gibt auch immer weniger Krankenhäuser. Weniger Bahnschienen. Weniger Bushaltestellen. Weniger Gastwirtschaften. Weniger Glasfaserkabel. Weniger Kinos. Weniger Arbeitsplätze. Weniger Menschen. Das Leben auf dem Land ist nicht leicht. Das hat keine Zukunft. Es gibt daher viele Menschen wie zum Beispiel den Autor dieses Beitrags (vormals Bayerischer Wald, jetzt München), die aus dem apokalyptischen Land fliehen, um in verheißungsvollen Städten zu leben.

Es gibt schon lange eine Landflucht. Und inzwischen auch noch eine Stadtflucht. Fazit: In der Stadt kann man nur krank und irre werden, auf dem Land nur irre und einsam. Wehe, man wird auch noch krank. Spätestens jetzt wird es Zeit für eine gute Nachricht. Bitte: "93 Prozent der Fläche Deutschlands", so der Baukulturbericht "Stadt und Land", werden von Gemeinden "jenseits der großen Metropolen" eingenommen.

Sechzig Prozent der Deutschen leben in kleineren oder mittleren Städten, die ländliche Qualitäten, aber auch urbane Viertel vorweisen können

Das sind Landgemeinden bis zu 5000 Einwohner, Kleinstädte bis zu 20 000 Einwohner und kleinere Mittelstädte bis zu 50 000 Einwohner. Das heißt: Eine Mehrheit der Deutschen, 60 Prozent, lebt gar nicht in gigantischen Metropolen. Sie lebt aber auch nicht in dörflichen Schrumpf-Strukturen, sondern oft in kleineren oder mittleren Städten, die durchaus urbane Qualitäten aufweisen können. Wie es ja auch urbane Stadtviertel dort gibt, die durchaus ländliche Qualitäten aufweisen können. Man selbst wohnt übrigens an einem Ort in München (urban), der manchmal große Ähnlichkeit mit Dagobah (sumpfig) hat.

In Wahrheit existiert die so klare wie falsche Dichotomie Stadt/Land nicht. Nur als Feindbild. Die meisten Menschen leben eher in Zwischenräumen, die weder dem "Stumpfsinn" (Thomas Bernhard über Städte) noch der "Idiotie" (Karl Marx über das Land) entsprechen. Die raumsoziologische Wahrheit in Deutschland ist eine der Komplexität und des dynamischen Wandels. Somit ist zwar nicht alles besser als gedacht, aber jedenfalls nicht so klischeehaft antagonistisch. Ganz bestimmt ist es kompliziert.

Die zweite gute Nachricht besteht insofern aus der ARD-Themenwoche, die von diesem Sonntag und bis zum 13. November unter dem Titel "Stadt. Land. Wandel" Dutzende von erhellenden und die Komplexität unserer Lebensräume ausleuchtenden Beiträgen auf allen möglichen Kanälen und in allen möglichen Formaten anbietet. Die Stadt, heißt es auf der Homepage des für die Themenwoche federführenden Bayerischen Rundfunks, wo sich auch ein praktischer Programmkalender findet, "ist nicht immer städtisch und zukunftsweisend und das Land ist nicht immer ländlich und unterversorgt". Oft ist das Gegenteil der Fall. Genau in dieser Differenzierung liegen die Chancen. Gleich neben den Fragen.

Ein junger Mann, der sich in dem Dokumentarfilm Wir alle das Dorf schüchtern zu Wort meldet, will jetzt wissen, ob eine Kirche geplant werde für das neue Dorf. Oder auch eine Moschee. Das sei nicht seine eigene Frage. Der Vater, der nicht habe zur Versammlung kommen können, wolle das wissen. Er selbst, meint der junge Mann, würde ja auch ein Schwimmbad statt Kirche und Moschee gut finden. Daraufhin sagt einer der Dorfplaner: "Wir bauen das, was ihr wollt. Vielleicht auch eine schwimmende Moschee." Damit hat Hauke Stichling-Pehlke, Ex-Großstadtmensch, bald Juli-Zeh-Schicksalsgenosse, die Lacher auf seiner Seite. Das ist gut so, denn in den nächsten finsteren Monaten, in denen im Wendland das Dorf für 130 "Genossinnen und Genossen" (herrlich: Das Comeback der SPD deutet sich hier schon mal an) entstehen soll, wird es auch Tränen geben.

Der anderthalbstündige Dokumentarfilm von Claire Roggan und Antonia Traulsen begleitet die Idee eines Modelldorfes und wird zur Reise in die Utopie. Es geht um das Konzept eines "Dorfes für alle", in dem sich Alte, Junge und Geflüchtete zusammenfinden und mit bezahlbaren, baubiologisch gesunden Häusern ausgestattet werden sollen. Ein soziologisches Experiment. Das übrigens teilweise scheitert - zumindest mit Blick auf die geflüchteten Menschen anderer Kulturkreise. Abgesehen davon, dass am Ende Siedelnde und Geflüchtete doch nicht zusammenfinden, werden aber noch genug disparate Lebensvorstellungen zu einem "Wir alle". Am Ende möchte man Menschen, die einen ja normalerweise sehr nerven könnten in ihrer waldorfpädagogischen Glutenfreiheit samt Bohnen-Patties, zu ihrer Freiheit gratulieren.

Das Leben ist ein Möglichkeitstraum. "Es ist schön, im Himmel zu leben", sagt der Bewohner einer Raumlandschaft auf einem Pariser Dach

Von einer ganz anderen Form der Freiheit erzählt die auch im Wortsinn herausragende Architekturfilmreihe Drunter & Drüber von Sabine Reeh (Idee und Konzept), die eine weltläufige Einladung zum Staunen über die Kreativität der Baukunst ist. Hier geht es eben nicht um Dörfliches, Horizontales, sondern um Städtisches, Vertikales. Und um die Frage, die sich in allen großen Städten aktuell stellt. Wie kann man mehr Wohnraum schaffen - ohne Dichtestress?

Im Begleitmaterial zu der Filmreihe heißt es: "Wohnungsnot, fehlende Grünflächen, Verkehrsinfarkt, Enge, Lärm, Stress - so sieht heute die Realität aus. Aber es gibt Lösungsansätze, die zeigen, wie durch Wachstum nach oben und unten urbane Räume vertikal erweitert und durch klug gestaltete Verdichtung aufgewertet werden können." Zu sehen sind architektonisch staunenswerte Beiträge aus aller Welt. In der Nähe von Paris sagt ein Bewohner jener wundersamen Raumlandschaft, die auf dem zuvor ungenutzten Dach entstanden ist: "Es ist schön, im Himmel zu leben."

"Warten auf'n Bus" im RBB
:Das süße Nüscht

Irgendwo in Brandenburg unterhalten sich runtergewohnte Endvierziger: Die großartige Comedy "Warten auf'n Bus" geht in die zweite Staffel.

Von Holger Gertz

Andreas Brohm, Bürgermeister in Tangerhütte, Sachsen-Anhalt, macht in einem wiederum ganz anders gelagerten Beitrag ( Sind unsere Dörfer noch zu retten? von David Holland) glaubhaft, dass auch Tangerhütte himmlisch sein könnte. Falls es überlebt. Diese Doku ist ebenfalls zu empfehlen. Die soziologische Raumfrage wird hier auch ökonomisch und politisch in ihrer enormen Brisanz dargestellt. Vom Himmel zur Hölle ist es nicht weit. Aber das gilt auch umgekehrt. Das Leben ist ein Möglichkeitsraum. Die ARD-Themenwoche macht sich verdient darum, diesen Raum auf anregende und erhellende Weise auszuloten.

Wir alle das Dorf, in der NDR-Mediathek; Sind unsere Dörfer noch zu retten? Das Erste, Montag, 20.15 Uhr; Drunter & Drüber, BR, 10. November, 22.45 Uhr. Hier finden Sie das Programm der ARD-Themenwoche

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusHäuser und Städte im Klimawandel
:Ein Job für Superhelden

Ökonomisch, ökologisch und sozial ist der Bau das wichtigste Feld der Politik. Dafür braucht man aber kein närrisches Heimat-, sondern endlich ein kluges Superbauministerium.

Essay von Gerhard Matzig

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: