"Spiegel"-Abschlussbericht:Ein System von Gleichgültigkeit

"Spiegel"-Abschlussbericht: Der Spiegel-Gründer Rudolf Augstein 1975 in seinem Büro. Die aktuellen Enthüllungen stellen auch den Reportagestil jener Zeit infrage.

Der Spiegel-Gründer Rudolf Augstein 1975 in seinem Büro. Die aktuellen Enthüllungen stellen auch den Reportagestil jener Zeit infrage.

(Foto: Sven Simon/imago)

Wie das Nachrichtenmagazin "Spiegel" in einem umfangreichen Bericht einen Betrugsfall offenlegt - und die eigene Identitätskrise gleich mit.

Von Willi Winkler

Plötzlich werden "Ängste" offenbart, es geht ständig um Journalistenpreise, also um "Neid", von gegenseitiger "Abschottung" ist die Rede und mehrmals von schlichtem "Hass". Die Aufklärungsgeschichte, die am Samstag in voller siebzehnseitiger Länge im Spiegel erschienen ist, bietet einen bisher nicht für möglich gehaltenen Blick in die Maschinerie des Nachrichtenmagazins. Beim Spiegel, so erfahren der Leser und die Leserin, arbeiten auch faule Redakteure, die "auf dem Markt keine Chance" hätten, Leserbriefe, sogar Chefmails, verschwinden einfach, Fakten werden von der Dokumentation "nicht selten" kurz vor Andruck passend gemacht. Der Spiegel, das fabulöse "Sturmgeschütz der Demokratie", zu dem es sein Gründer Rudolf Augstein einst befördert hat, erschießt sich gerade selber.

Anlass für die Selbstbezichtigung ist der im Dezember aufgeflogene Reporter Claas Relotius, der das Elend in der Welt zu schönen Geschichten veredelt hat, was ihm so viel Ruhm wie Kollegenneid einbrachte. Eine dreiköpfige Kommission sollte die Umstände erforschen, die den Betrug ermöglichten, und hat nun einen Bericht voller weiser Lehren vorgelegt.

Relotius hat also Geschichten gefälscht und so Kollegen belogen. Sein Ressortleiter Matthias Geyer soll Relotius sogar zu diesen Kisch-as-Kitsch-can-Geschichten ermuntert haben, und nicht zuletzt haben auch die legendären Faktenchecker der Dokumentationsabteilung offenkundig versagt, weil sie diese Geschichten vielfach ungeprüft abgesegnet haben. Diese Selbstanklage ist also eine weitere, gut erzählte Geschichte, vorgetragen mit Zerknirschung und der stummen Bitte um Absolution.

Wovon der Bericht über den "Fall Relotius und was wir daraus lernen" in all seiner masochistischen Offenheit nicht erzählt, ist die wenig schöne Tatsache, dass Neid und Hass beim Spiegel seit Anbeginn die Arbeitsgrundlage bildeten. Jedem Ressort wurden zwei Chefs vorgesetzt, die sich ruhig bekämpfen sollten. Ziel war natürlich, dass sich durch die dauernde Konkurrenz bessere Resultate ergaben, der Spiegel also Woche für Woche besser würde. Ein Ergebnis war der Reporter Relotius aus dem Ressort Gesellschaft.

Kaum etwas ist interessanter als die Figuren, die in Hamburg bei Reportern bestellt wurden

Nur war keineswegs neu, was und wie er geschrieben hat. Relotius hat so gedichtet, wie es das Spiegel-Statut von Anfang an vorsah und wie es unter den Chefredakteuren Aust, Büchner und Brinkbäumer mit Blick aufs schwindende Publikum noch forciert wurde. Die reumütig vorgetragenen Zweifel an der "schön geschriebenen" Reportage kommen daher ein bisschen spät. Der Lyriker Hans Magnus Enzensberger hat der "Sprache des Spiegel" im Jahr 1957 im damaligen Süddeutschen Rundfunk ein einstündiges Feature gewidmet. Er zitierte dafür aus dem Spiegel-Statut: "Die Form, in der der Spiegel seinen Nachrichtengehalt an den Leser heranträgt, ist die Story." Der Sinn der Story sei es, so erläuterte der studierte Germanist bereits vor 62 Jahren, "die Nachricht in ein pseudoästhetisches Gebilde zu verwandeln, sie aus dem Kontext der Situation zu entfernen. (...) Nachrichten sind für Unterhaltungszwecke im Allgemeinen ungeeignet, sie sind kein Genuss-, sondern ein Orientierungsmittel. Dagegen stellt die Story ganz andere Bedingungen: Sie muss Anfang und Ende haben, eine Handlung, und vor allem einen Helden. Echte Nachrichten ermangeln leider oft dieser Eigenschaften. Umso schlimmer für die Nachrichten, scheint der Spiegel sich zu sagen." Ein Beispiel gefällig?

"In den kahlen Bergen Nordpalästinas ist die Nacht zum Tag geworden", beginnt eine vorgebliche Nachrichtengeschichte. "Während tagsüber Jeeps mit schwer armierten palästinensischen Arabern das Land nach jüdischen Angreifern abpatrouillieren, rumpeln nachts Lastwagen mit geschmuggelten Waffenladungen über die holprigen Straßen zu den arabischen Dörfern." Doch es war kein Spiegel-Reporter dabei, als die Lastwagen nachts über die holprigen Straßen rumpelten, die Geschichte erschien trotzdem, denn "Fauzi el Kaoukij aus Arabien dementiert nicht", wie Augstein seine Redakteure beruhigte, als sie 1948 aus englischen Zeitungen eine Geschichte über den arabischen Aufstand zusammenleimten.

Der dem Spiegel-Gründer wohlgesonnene Biograf Peter Merseburger spricht von einer "geradezu gemeingefährlichen Gleichgültigkeit", die in den Gründerjahren herrschte.1948 gab es noch keine Dokumentationsabteilung zum Faktencheck, dafür aber bereits einen detail- und adjektivfreudigen Erzählwillen, der nun von der Untersuchungskommission für die Relotius-Katastrophe mitverantwortlich gemacht wird. Aber was der Musterschüler Relotius 2018 zusammenschrieb, beherrschten die Spiegel-Redakteure schon vor siebzig Jahren, wenn sie von diesem "stiernackigen Mann mit den stahlblauen Augen und dem feuerroten Haar" schrieben, eben jenem Fauzi, der "nicht tot zu kriegen" sei.

Tot oder lebendig, "nichts", so zitiert der damals 27-jährige Enzensberger aus dem Statut, "interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch. Darum sollten alle Spiegel-Geschichten einen hohen menschlichen Bezug haben." Genau den hohen menschlichen Bezug hat Relotius geliefert, getreu der Vorgabe seines Ressortleiters, der ihm den passenden Typ bereits vor der verhängnisvollen Reportage über die nordamerikanischen Vigilanten an der mexikanischen Grenze fix und fertig skizziert hatte: "Dieser Typ wird selbstverständlich Trump gewählt haben, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze angekündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut." Nichts ist interessanter als der Mensch, der bereits in Hamburg erschaffen ist. Relotius fand ihn nicht und hat ihn dann erfunden.

Der Schriftsteller Rainald Goetz bot einmal dem Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit eine Spiegel-Reportage über Gerhard Schröder an, "quasi als Bewerbungsschreiben für eine Mitarbeit im Politressort". Kurbjuweit gab sie ihm als sprachlich ungenügend zurück. Goetz warf sich selber vor, sich "ganz und gar in die Falschheit verrannt" zu haben. Das richtig falsche Erzählen beim Spiegel hat das nicht verhindert.

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Spiegel-Zentrale in Hamburg

Journalismus
:"Spiegel" veröffentlicht Abschlussbericht zum Fall Relotius

Eine Kommission hatte fünf Monate lang an der Aufarbeitung gearbeitet. Demnach habe niemand aus dem Haus von Relotius' Fälschungen gewusst, Zweifel seien aber zu lange ignoriert worden.

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