Süddeutsche Zeitung

Soziale Medien als Gegenöffentlichkeit:Radikalisiert euch doch selber

Ein Buch beschreibt, wie unorganisiertes Unbehagen in den sozialen Medien immer wieder zu Extremismus führt.

Von Bernd Graff

Es waren nachrichtenintensive Wochen in den USA. Die Lage blieb auch nach den Wahlen lange unübersichtlich, ein Ergebnis ließ auf sich warten. Doch für eine immer größer werdende Fraktion in den sozialen Medien war die Sache bald klar: Man habe Trump den Wahlsieg gestohlen, die Auszählung sei manipuliert, alles nur ein abgekartetes Spiel. Auf Twitter, Facebook, Youtube, Telegram und in anderen Netzwerken haben sich längst zu nahezu allen gesellschaftlich relevanten Fragen Parallelöffentlichkeiten gebildet, die mit Fakten oft nur insofern zu tun haben, als sie diese ablehnen. Mit dem großen Raunen zu Covid-19, dem "tiefen Staat", dem Elitensumpf will man die angeblich korrupten Systeme und Obrigkeiten entlarven.

Spätestens seit dem Brexit und den US-Wahlen von 2016 mussten sich die Betreiber der großen Social-Media-Plattformen der Frage stellen, wieso sie Desinformation und Fake News nicht nur auf ihren Plattformen duldeten, sondern mit ihren Empfehlungssystemen und Ranking-Algorithmen sogar maßgeblich förderten. Zur aktuellen Wahl zeigten sich Facebook und Twitter daher gewappnet. Facebook verbot etwa politische Werbung vorübergehend und bekämpfte die Verbreitung der Lüge, dass sich mit Corona infiziere, wer wählen geht. Twitter markiert selbst die Lügen des noch amtierenden US-Präsidenten mittlerweile nicht nur als "irreführend", es sperrt sie manchmal auch ganz mit dem Verweis auf die eigenen Richtlinien.

Es wäre natürlich naiv zu glauben, dass man Verschwörungstheorien in den sozialen Medien damit zum Verschwinden bringt. Ganz im Gegenteil. So präsentierten die täglichen Livestream-Videos der Influencerin Millie Weaver auf Youtube, die sich dort "Millennial Millie" nennt, in der letzten Woche ein verschwörungssattes Gegenprogramm zur TV-Berichterstattung, das in manchmal sechseinhalb Stunden langen Sendungen die Wahl Joe Bidens als geheimen Staatsstreich interpretierte. Der Kanal der ehemaligen "Infowar"-Mitarbeiterin von Alex Jones hat 459 000 Abonnenten, die ihre Dauerwerbesendungen verfolgen. Jones, das nur am Rande, ist der Vater aller Verschwörungstheoretiker. Trump hat ihn schon in seinem ersten Wahlkampf mit seinen Zitaten nobilitiert.

Allein der Youtube-Übertragung von Millennial Millies Sendung am 5. November folgten fast 300 000 Nutzer und kommentierten und applaudierten live. Auch hier zeigt die schiere Masse: Das ist keine Filterblase von Versprengten und Irregeleiteten, da hat eine veritable Gegenöffentlichkeit ihr Medium gefunden. Eine Öffentlichkeit wie vom anderen Stern, die das Vertrauen in grunddemokratische Prozesse wie eine Wahl verloren zu haben scheint. Denn Millie ist ja keineswegs allein auf Sendung. So schoss "LIVE 2020 Presidential Election Results", die angebliche Live-Berichterstattung zur Wahl auf dem Youtube-Kanal von "Seven Hip-Hop", mit seinen mehr als 650000 Followern in der Wahlnacht auf Platz fünf der internationalen Google-Suche, weil so viele diesem Livestream folgten. Kaum etwas aus der Sendung entsprach der Wahrheit. Das Magazin Insider fand heraus, dass die vier Top-Ergebnisse einer Suche nach "Presidential Election Results" in der Wahlnacht Fake-Ergebnisse präsentierte. Doch anders als Millennial Millies konservierte Dauerverschwörungssendungen wurden diese Videos mittlerweile von Youtube entfernt.

Ein paar Tage später rief Steve Bannon, der ehemalige Chefstratege Trumps, auf seiner eigenen Video-Plattform "War Room: Pandemic" dazu auf, den Virologen Anthony Fauci und den FBI-Direktor Christopher Wray zu köpfen. Auch hier reagierten Twitter und Facebook erst im Nachhinein und sperrten Bannon aus. Doch damit waren und sind Bannons Beiträge nicht aus dem Netz verschwunden, sie kursieren auf seiner eigenen Plattform natürlich und auch hier und dort im Netz weiterhin frei zugänglich. Gerade macht in Verschwörerkreisen der französische Film Hold-Up die Runde, ein Film, in dem Verschwörungstheorien zur Covid-19-Pandemie verbreitet werden.

Gerade diese Beispiele zeigen die Probleme auf, die nicht nur Social-Media-Plattformen, sondern Demokratien überhaupt mit der radikalen Rechten und empörungswilligen Verschwörungstheoretikern haben. Diese Gegenöffentlichkeiten verschwinden nicht einfach wieder, wenn Biden der nächste US-Präsident wird oder ein Impfstoff gegen das Coronavirus gefunden ist. Sie setzen vielmehr verstärkt auf (Live-)Videos im Netz, um ihre Botschaften abzusetzen und Reichweiten zu erzielen. Diese Botschaften sind anders als Textnachrichten kaum in Echtzeit auf ihre Inhalte zu scannen und zu stoppen. Die Macher suchen sich zudem immer neue Plattformen für die Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien, wenn ihr Geschäft an manchen Stellen erschwert wird.

Aber, das ist der eigentlich verblüffende Befund, sie behalten trotz dieses Hase-und-Igel-Spiels im Social Web - trotz des Wettlaufs von Erscheinen, Bannen, Verschwinden und dann Wiedererscheinen der Inhalte an anderer Stelle - ihre gigantischen Follower-Zahlen. Sie bleiben extrem reichweitenstark trotz solcher Plattformwechsel. Offenbar ist es, wie Jörg Schönenborn, der Herr aller Großdisplays in der Wahlberichterstattung der ARD, in der US-Wahlnacht mit nahezu kindlichem Staunen feststellte: "Es muss ein völliger Riss durch die Wirklichkeiten und Welten der Gesellschaft gehen. So unvereinbar beschreiben die Lager ihre Wirklichkeiten. Das habe ich noch nie erlebt."

Die beiden Autoren und Wissenschaftler am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH) Maik Fielitz und Holger Marcks sind diesem Riss in demokratisch verfassten Gesellschaften nachgegangen, dokumentiert in dem gerade erschienen Buch "Digitaler Faschismus" im Dudenverlag. Die Autoren bezeichnen die sozialen Medien darin als die "größte Propagandamaschine in der Geschichte der Menschheit".

"Faschismus" ist eine angreifbarer Begriff dafür, den Historiker wohl nicht zu Unrecht als zu vage definiert kritisieren mögen. Relevant ist Fielitz' und Marcks' Untersuchung der Techniken rechtsextremer Akteure in den sozialen Medien trotzdem: Ängste verstärken, Verwirrung stiften und Mehrheitsverhältnisse verzerren. Dass diese Strategien eine solche Dynamik entfalten können, hat, so das Ergebnis der Forscher, gerade mit der Funktionsweise der sozialen Medien zu tun, die Hasskulturen triggern. Durch die Mechanismen der Verlinkung und Favorisierung von Inhalten verstärken sie die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Untergangserzählungen. Das heißt: Man reizt das Sentiment, aber man startet keine Revolution, man muss nur beständig Öl hinzu träufeln, damit das Feuer lichterloh brennt. Die Sozialen Medien radikalisieren sich dann selber, heißt das. Das Prinzip: Empörung, die sich an sich selber berauscht. "Wenn dich diese Übertragung erreicht, bist du der Widerstand", lautet ein in diesen Kreisen zirkulierendes Zitat aus den Terminator-Filmen. Wir schauen Schönenborns Riss beim Weiterreißen zu.

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