Soziale Medien:Geistreich

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"Der Pegel des Stumpfsinns steigt": Thomas Bernhard. (Foto: dpa)

"Der Pegel des Stumpfsinns steigt": Wie Thomas Bernhard und andere längst verstorbene Literaten von Verlagen, Stiftungen oder Bots auf Twitter zum Leben erweckt werden. Manchmal werden sogar ganze Romane durchgetwittert.

Von Aurelie von Blazekovic

Thomas Bernhard twittert: "Der Pegel des Stumpfsinns steigt." In seinem misanthropischen Grundton fügt sich der Satz ganz gut ein in das deutschsprachige Twitter (beschreibt er es vielleicht sogar?), dieses relativ kleine, ziemlich homogene Biotop von Medienmenschen, Politikern und wenigen anderen, in dem einmütig über den Tatort gewitzelt und sich gern auch wild übereinander empört wird. Wüsste man nicht, dass der Verfasser der übellaunigen Worte vor 30 Jahren gestorben ist, könnte man annehmen, dass der Schriftsteller selbst hinter dem Account @dailybernhard steckt. Schließlich ist da sein Name, sein Foto und eine plausible Bio zu sehen ("Ich bin in die Kunst hineingeschlüpft, um dem Leben zu entkommen", ein Zitat aus seinem Roman "Alte Meister"). Der Account verbreitet aber nur alte Zitate des österreichischen Schriftstellers, jeden Tag eines, in maßlosem Grant: "Der Briefträger geht mir auf die Nerven, die Post bringt nichts als nur Lächerlichkeiten ins Haus, die verärgern, Haufen von dummbedrucktem Papier, als handelte es sich bei dem Empfänger um einen Idioten." Der Account ist ein Sammelsurium Bernhards zahlreicher Abneigungen ("Die meiste Zeit bin ich wütend, wenn ich nur an Suhrkamp denk", "Die Jagd ist abstoßend", "Es gibt nichts widerwärtigeres und sinnloseres als vorzulesen") und damit genau richtig bei Twitter, wo das Gemeckere bisweilen komisch wird - wenn auch meist unfreiwillig.

Damit ist Thomas Bernhard in bester Literaten-Gesellschaft, auch Shakespeare, George Orwell, Mark Twain, Silvia Plath, Oscar Wilde und Emily Dickinson twittern. Wer hinter den Accounts steckt, ist selten offengelegt, manchmal Stiftungen, Verlage, Uniprofessoren oder sonstige Liebhaber, die die Worte großer Autoren weiterverbreiten. Meist jedoch Bots - beim Account des Literaturnobelpreisträgers T. S. Eliot deutet schon der Accountname @TSElibot darauf hin. Einmal programmiert und mit Zitaten gefüttert, posten diese selbstständig täglich oder stündlich auf Twitter. So lässt sich auch ein ganzer Roman durchtwittern, der Account @MobyDickatSea, ein Bot einer amerikanischen Medienprofessorin, postet das 900-Seiten-Werk von Herman Melville (der selbst auch einen Zitate-Account hat) Zeile für Zeile. Die Korrektheit der Zitate sollte man aber für jeden Account einzeln überprüfen, besser noch für jeden Tweet.

Denn neben den ehrlichen Zitateschleudern gibt es auch Satireaccounts, etwa @marktwain64, der Dinge schreibt wie "Ein Anagramm von ,Thomas Gottschalk' ist ,Oh Gott, Schamtalks'", was, obwohl es nicht sein einziges überraschendes Zitat wäre, Mark Twain eindeutig nicht zuzuordnen ist. Die toten Twitter-Literaten sind moderne Abreißkalenderchen, die Literatur in den Alltag sprenkeln. Kleingehäckselt in die Zeichenbegrenzung entfalten sie manchmal sogar eine neue Wucht, neuen Witz auf der Plattform, die ein lebendiger Autor, Jonathan Franzen, in einem Interview als "Tool für kleine und große Autokraten und Tyrannen" beschrieben hat. Denn wie Thomas Bernhard 1978 einem Theaterkritiker sagte (und später twitterte): "Alles, was man schreibt, ist auch eine Liebesgeschichte."

© SZ vom 26.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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