Süddeutsche Zeitung

Netflix-Serie:Reicht das für ein ganzes Leben?

"Social Distance" zeigt grandios, wie alle von der neuen Corona-Wirklichkeit betroffen sind.

Von Jürgen Schmieder

Die faszinierendste Folge der grandiosen Netflix-Serie Social Distance trägt den Namen "Alles ist super deprimierend". Halt, das stimmt nicht ganz: Diese Episode, die davon handelt, dass alles sehr deprimierend ist, dürfte so ziemlich zum Besten gehören, was in diesem Jahr auf einem Bildschirm zu sehen ist; die 23 Minuten enthalten so viel Hoffnung, Frust, Wahnsinn und Liebe, dass es einem so vorkommt, als würde es für ein ganzes Leben reichen.

Die Erfinderinnen Hilary Weisman Graham und Jenji Kohan haben ihr Autorenteam zum ersten Mal am 20. April versammelt, als absehbar gewesen ist, dass die Einschränkungen wegen der Coronavirus-Pandemie nicht nur ein paar Wochen lang bestehen bleiben würden. Mittlerweile, zum Start am 15. Oktober, ist klar, dass diese Situation sogar jetzt noch ein paar Monate länger andauert oder vielleicht sogar zu einer neuen Normalität geworden ist. Graham und Kohan fangen das in den acht Folgen, die miteinander nichts zu tun haben - außer dass natürlich jeder von dieser Corona-Wirklichkeit betroffen ist -, einfühlsam und doch schonungslos ein.

Der erst seit Kurzem trockene Friseur Ike (Mike Colter) freundet sich mit einer Pflanze an, denn er will angesichts der Isolation nicht komplett durchdrehen. Ein Vater (Dylan Baker) muss das Kind von der erkrankten Mutter fernhalten, eine Krankenpflegerin (Danielle Brooks) kümmert sich um eine schwerkranke Frau und ihre Tochter gleichzeitig, ein Paar zerbricht an der Arbeitslosigkeit und außerdem auch noch daran, miteinander eingesperrt zu sein. Eine Familie muss ihr Oberhaupt virtuell bestatten. Es sind nicht alle Folgen dieser Serie preiswürdig, und doch dürften alle Zuschauer mindestens eine finden, mit der sie sich identifizieren können. Und dann gibt es noch diese eine Ausnahme-Episode mit dem bereits erwähnten Titel "Alles ist super deprimierend".

Die von Kylie Liya Page gespielte Teenagerin Mia ist Mitglied eines ziemlich guten Videospiel-Teams, und sie ist verknallt in Kollege Jake. Es ist nicht nur faszinierend zu sehen, wie junge Leute heutzutage miteinander kommunizieren - sondern auch, wo sie das tun. Sie bewegen sich völlig spielerisch in virtuellen Welten, die für sie Realität sind, was die Quarantäne-Einschränkungen erheblich besser erträglich macht. Das mag für Erwachsene schwer zu verstehen sein, aber deren Eltern haben ja auch nicht kapiert, was an Rap oder Comicheften Kunst sein soll: All die Plattformen - von Tiktok und Instagram über Snapchat zu Videospiel-Chats und Virtual-Reality-Treffpunkten - dienen jeweils einer anderen Form der Kommunikation, und diese Nuancen sind unfassbar wichtig für Teenager.

In der Woche eines Teenagers passiert ja immer so viel, dass es für acht Leben reicht, und das viele wird durch diese Plattformen noch um ein Vielfaches beschleunigt. Die beste Freundin sagt einmal: "Hast du Instagram nicht gecheckt? Das ist doch schon seit einer Stunde öffentlich!"

Diese Coming-of-Age-Story ist lehrreich für alle, die verstehen wollen, was ihre Kinder den ganzen Tag tun und warum das Handy nicht dem Eskapismus dient und zu noch mehr Isolation führt, sondern zu intensiven Beziehungen. Die Geschichte beantwortet essenzielle Fragen über Rassismus (ja, es ist möglich, als Weißer in eine Asiatin verknallt und gleichzeitig ein Rassist zu sein) oder auch über den Irrsinn zu glauben, ein ganzes Leben zu verpassen, nur weil man mal kurz offline ist.

Es gibt keine Auflösung in dieser Folge, irgendwann wird der Bildschirm schwarz, nachdem ganz kurz gezeigt wird, was Mia da gerade verpasst hat. Es bleibt, was viele Leute angesichts dieser neuen Realität fühlen: Wut, Angst, Frust, Verzweiflung. Und bislang hat sicher niemand das so grandios eingefangen wie diese Episode von Social Distance.

Social Distance, bei Netflix.

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