Es ist immer schwierig, jemanden zu finden, der für wenig Geld viel arbeitet. Deshalb war dieser Typ namens Chad King auch der Traum eines jeden Zeitungsredakteurs. Der freie Journalist war einfach überall im Großraum Houston, war immer vor Ort und ganz nah am Menschen.
In Clear Lake berichtete er über unhygienische Zustände in einem Fastfood-Restaurant, in Fort Bend gab er den Polizeireporter und in Pearland war er zugegen, als Athleten der Special Olympics dem örtlichen Sportzentrum einen Besuch abstatteten. Mehr als 350 solcher Geschichten schrieb King seit Herbst 2010 für die Lokalseiten des Webangebots der angesehenen Tageszeitung Houston Chronicle. Es gab nur ein Problem mit dem Lokalreporter aus dem Bilderbuch: Er hat nie existiert.
Chad King ist das Alias eines anonymen Mitarbeiters des amerikanischen Nachrichtendienstleisters Journatic. Seit mehr als fünf Jahren beliefert das Unternehmen große amerikanische Verlage mit Texten. Ohne besondere Ankündigung und ohne dass es die Leser bemerkten, wurde immer mehr Arbeit von den Redaktionen der Chicago Tribune, des San Francisco Chronicle oder auch des Houston Chronicle ausgelagert und an Journatic übergeben.
Die Firma produzierte zu einem Spottpreis "hyperlokale" Geschichten - so heißen im amerikanischen Journalismus die Stories, die berichten, was im Viertel gleich um die Ecke passiert. Obwohl nie Zahlen veröffentlicht wurden, war das Geschäft wohl profitabel.
Im Frühjahr 2012 wurde die Tribune Company, das Stammhaus des Chicago Tribune, nicht nur Journatic-Auftraggeber, sondern auch Investor. Da befand sich das Verlagshaus zwar noch im Gläubigerschutz, aber die Beteiligung schien der Unternehmensspitze wohl vielversprechend. Erst in den vergangenen Wochen wurde der Name Journatic dann einer breiteren Öffentlichkeit bekannt - ausgerechnet im Zuge schlechter Nachrichten.
Fremde Artikel plagiiert
Denn die Texte, die "Chad King" und seine Kollegen den Zeitungen lieferten, entstanden keinesfalls vor Ort. Stattdessen beschäftigte Journatic zu diesem Zeitpunkt etwa 140 Angestellte auf den Philippinen, die einen Großteil der Arbeit verrichteten. Sie durchforsteten Polizeiberichte, Amtsblätter, Sporttabellen, Pressemitteilungen oder Studienergebnisse und zimmerten daraus grobe Texte, die dann von Muttersprachlern aufbereitet und unter falschem Namen - für Preise zwischen zwei und zwölf Dollar - an die Redaktionen geliefert wurden. Darüber hinaus wurden fremde Artikel plagiiert und Zitate auch schon mal erfunden, das berichtete ein Journatic-Insider in der bekannten Radiosendung This American Life über die Geschäftspraktiken seines Arbeitgebers.
Die Empörung war groß. Im sozialen Netz triefte die Häme, die beteiligten Verlage konnten sich nicht schnell genug von Journatic distanzieren, die Tribune Company beendete ihre Beteiligung. Von dem Unternehmen selbst war auf Anfrage kein Kommentar zu erhalten, zuletzt hieß es, dass wohl ein Großteil der Angestellten entlassen werde.
Die Enttäuschung ist wohl gerade auch deshalb so groß, weil der sogenannte "Hyperlocal Journalism" schon seit einiger Zeit eines der großen Heilsversprechen in der seit Jahren darbenden amerikanischen Medienbranche ist. Die Idee ist einleuchtend: Man besinnt sich wieder auf das Geschehen in der eigenen Stadt, auf die unmittelbare Lebenswelt des Lesers und nicht auf die große weite Welt.
Mit dem globalen Nachrichtengeschäft im Internet kann und will nicht jeder mithalten. Was liegt da näher, als sich auf seine Kernkompetenz zu besinnen und zurück auf die Straßen der eigenen Stadt zu finden. Bekanntlich liegen ja gerade dort die Themen. Klar ist aber auch, dass dieser Ansatz nicht ganz billig ist. Wer kann es sich schon erlauben, Dutzende Lokalreporter zu beschäftigten?
Die Journatic-Affäre ist für die beteiligten Verlage peinlich, doch Text-Outsourcing an sich, so die Meinung mancher weniger empörter Kommentatoren, sei nicht grundsätzlich zu verdammen. Es müsse nur transparent gemacht werden. So lässt sich der Fernsehsender CNN unter dem Namen iReport Texte von Laien zuliefern. Die unabhängige Nachrichtenwebsite propublica.org gewann mit ihrem "Distributed Reporting Project" sogar den wichtigen Knight-Batten-Preis für Innovationen im Journalismus.
Andere Projekte versuchen, die Nachrichtenproduktion an die Masse der Internetnutzer auszulagern. Momentan untersucht eine Forschungsgruppe der Carnegie Mellon Universität unter dem Projektnamen "my boss is a robot", ob es möglich ist, einen journalistischen Text nicht von einem Experten, sondern von vielen Laien verfassen zu lassen. Dazu veröffentlichten die Initiatoren ein Gesuch auf der Website Mechanical Turk. Hier können sich Laien für vermeintlich einfache Jobs bewerben. Jeweils mehrere Hobby-Journalisten sollten zusammen einen Text schreiben, der auch in einem großen Magazin veröffentlicht werden könne. Die ersten Ergebnisse waren ernüchternd.
Die Journatic-Affäre ist vielleicht der prominenteste, mit Sicherheit aber nicht der einzige Fall, in dem die Nachrichtenproduktion von den Redaktionen heimlich outgesourct wurde.
Wer am wenigsten Geld verlangt, erhält den Zuschlag
Auf Webplattformen wie "journalismjobs.com", "freelancer.com" oder "odesk.com" gibt es Hunderte Einträge von Verlagen und Produktionsfirmen, die nach den billigsten Angeboten von freien Autoren und Redakteuren suchen. Die Qualität der Texte ist fragwürdig, zumindest ist sie nicht entscheidend: wer am wenigsten Geld verlangt, erhält den Zuschlag, nach dem Motto: Suche Menschen, die mir am billigsten Artikel runterkloppen. Wie man es auch von Dienstleistungsseiten kennt, unterbieten sich die Freiberufler bei den Honoraren.
Genau wie bei Journatic geht es hier oftmals um lokale Berichterstattung, aber auch für Artikel zu Technik- oder Wissenschaftsthemen gibt es Ausschreibungen. Die Honorare sind kläglich - oftmals wird kaum mehr als ein paar Dollar für Texte von mehreren Hunderten Wörtern Länge bezahlt. Trotzdem ist die Nachfrage nach den Jobs enorm. Das Gros der potenziellen Autoren, die als Bewerber um die Aufträge kämpfen, sitzt in Ländern wie Bangladesh, Indien oder den Philippinen.