Süddeutsche Zeitung

"Reporter" von Seymour Hersh:Ein begnadeter Einzelkämpfer

Seine berühmteste Geschichte wäre aus staatsbürgerlicher Feigheit fast nicht erschienen und John Lennon erkannte er einfach nicht. Über die Memoiren des Großreporters Seymour Hersh.

Von Willi Winkler

Das Goldene Zeitalter des Journalismus ging 2001 zu Ende. Der Chefredakteur des New Yorker rief seinen berühmten Reporter an und bat ihn "fast flüsternd", diesmal nicht die dreitausend Meilen zu fliegen, sondern seinen Informanten nur am Telefon zu befragen. Das Geld fehlte, das Geld und bald auch die Freiheit, in der Wut auf den unbelehrbaren Chef die Schreibmaschine aus dem Fenster zu werfen.

Allenfalls der Totengräber führt ein langweiligeres Leben als der Journalist. Googeln, telefonieren, schreiben, abgeben, warten, wieder neu anfangen - für eine Biografie gibt das nichts her. Mord und Totschlag begehen andere, und wer interessiert sich schon für hautnah erlebte Bürointrigen oder eine schonkaffeegetriebene After-Work-Anbahnung am Kopierer?

Seymour Hersh ist da eine Ausnahme. Er hat vielleicht nicht die Welt verändert, aber doch ihr Bewusstsein mehr als jeder andere Journalist. Über Jahrzehnte war er der bedeutendste Reporter, in der Wirkung vergleichbar nur mit Upton Sinclair, der aus den Fleischfabriken Chicagos berichtete, oder, noch früher, mit Émile Zola, der 1898 die Dreyfus-Affäre enthüllte. "Ich war gern der Beste, der Erste", sagt der inzwischen 81-jährige Hersh treuherzig, und wie es dahin kam, erzählt er in seinen Memoiren mit dem schlichten Titel "Reporter" (erschienen ausgerechnet im Red-Bull-Verlag Ecowin). Es ist ein richtiger Bildungsroman geworden, der amerikanisch anhebt wie Saul Bellows "Abenteuer des Augie March": "Ich wuchs an der Chicago Southside auf, wo ich niemanden aus der Zeitungsbranche kannte und mich hauptsächlich für Baseball interessierte." Hersh führt die Schnellreinigung seines Vaters in einem Schwarzenviertel und lernt schnell, was Rassismus bedeutet. Er bringt es nie auf eine Eliteuniversität und zieht sich so nachlässig an, dass ihm sein zeitweiliger Chef bei der New York Times eines Tages Hemden von Brooks Brothers mitbringt: "Ziehen Sie sich besser an." Hersh schafft es bis zum heutigen Tag nicht.

Diese aristokratische Zeitung wollte aus staatsbürgerlicher Feigheit seine berühmteste Geschichte nicht haben, eine Enthüllung, die tatsächlich Einfluss auf die große Politik hatte. Die Army musste einen Unteroffizier wegen Tötung von Zivilisten vor Gericht stellen, aber es sollte geheim bleiben, dass Leutnant William Calley am 16. März 1968 mit seinem Trupp das südvietnamesische Dorf My Lai überfallen und dabei (je nach Zählung) 350 bis 500 Menschen massakriert hatte. Nach mühsamer und detailliert geschilderter Suche stöberte Hersh diesen Calley auf. Er hatte einen Kindermörder erwartet und traf auf einen "verängstigten jungen Mann, klein, dünn und so blass, dass man die Adern in seinem Hals und seinen Schultern bläulich durchschimmern sah". Vom Saufen muss Calley kotzen, er spuckt Blut. Calley fühlt sich als Opfer; im Jahr davor fand er es richtig, Frauen und Kinder abzuschlachten.

Ahnungslos plauderte er mit einem ihm unbekannten Engländer: John Lennon

Die Reportage über das Massaker von My Lai kann nur erscheinen, weil Hersh sie über eine Agentur vertreibt. Calley kommt vor Gericht, erhält lebenslänglich, wird jedoch vom Präsidenten Richard Nixon sofort zu Hausarrest begnadigt und später amnestiert. Die Stimmung im Land wendet sich aber endgültig gegen den Krieg. Seinem späteren Ressortleiter Abe Rosenthal bei der Times gilt Hersh nicht nur wegen seiner Kriegsgegnerschaft als "mein kleiner Kommunist", mit ihm streitet er sich unentwegt, aber Rosenthal will auch die Geschichten von ihm, die nur er liefern kann. Hersh deckt auf, wie Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger am Sturz des chilenischen Präsidenten Allende arbeiteten, wie die CIA zu Tausenden angebliche Staatsfeinde überwachen ließ, wie Fidel Castro umgebracht werden sollte. Gleichzeitig war Hersh so weltfremd oder ging so sehr in seiner Arbeit auf, dass er Anfang der Siebziger auf einer Party ahnungslos mit einem ihm unbekannten jungen Engländer plaudern konnte, der Schwierigkeiten mit der Einwanderungsbehörde hatte. Es war John Lennon, einer von denen, die beobachtet und verfolgt wurden.

Redakteure sollten nicht mit regierenden Präsidenten befreundet sein, ist er überzeugt

Mit bemerkenswertem Mut drang der in Chicago gehärtete Reporter in die Verflechtungen von Filmindustrie, Banken, Gewerkschaften und Mafia ein und erlebte dabei, dass ihm ein Rechtsanwalt in einem besseren Anzug ein ähnliches Schicksal androhte wie den Toten von My Lai. Mehr aber empörte ihn die Willfährigkeit der Kollegen, die Kissinger die Bewertung seiner Politik gleich direkt für die Titelseite diktieren lassen. Seine Chefs lassen sich beim Präsidenten Gerald Ford zum Mittagessen einladen, der offen über Hinrichtungen im Regierungsauftrag spricht, was sie aber für sich behalten wollen. Hersh will gern als "prüde" gelten, weil er glaubt, "dass Redakteure nicht mit regierenden Präsidenten befreundet sein sollten".

Lange hielt er es nie ein einer Redaktion aus, dafür war er viel zu sehr Einzelkämpfer, der seine Geschichten allein entdeckte, allein recherchierte und allein schreiben wollte. Sein Arbeitsleben lang war er berühmt für seine unzähligen Informanten. Nicht nur einmal ist er auf Zuträger hereingefallen, hat sich sogar vom syrischen Präsidenten Baschar al-Assad einwickeln lassen, als er dessen Version des Giftgasangriffs propagierte. Einmal wollte er den damaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer als "hochrangigen europäischen Diplomaten" zitieren, der den stellvertretenden US-Außenminister Paul Wolfowitz als "Trotzkisten" bezeichnet hatte. Der ehemalige Antiquar der Frankfurter Karl-Marx-Buchhandlung musste es ihm untersagen, er wäre sofort aufgeflogen, schließlich sei er "der einzige Diplomat in Europa, der weiß, was ein Trotzkist ist".

Zu Hershs jüngeren Enthüllungen gehört eine Reportage über die Hintergründe der Entdeckung Osama bin Ladens und davor über die Gräuel, die sich amerikanische Soldaten mit ihren irakischen Gefangenen in Abu Ghraib leisteten. "Es war ein gutes Gefühl, wieder einen Artikel zu schreiben, den meine Regierung lieber nicht gesehen hätte", verkündet er einmal stolz. "Ich hatte den besten Beruf der Welt." Aber seine eigene Geschichte, das weiß Seymour Hersh selber, ist wie ein Märchen aus uralten Zeiten.

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Quelle:
SZ vom 21.01.2019/cag
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