Sexismus-Talk bei Anne Will:Irrlichter im Meinungsdurcheinander

Heiner Geißler Anne Will

"Ehrenfeminist" in schwarzer Lederjacke: Heiner Geißler bei Anne Will.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Immerhin gibt es Fortschritte! Von wegen Fortschritt! Die wahren Verlierer sind die Männer! Bei der Gesprächsrunde von Anne Will irrlichtern Thesen zum Sexismus munter durchs Studio. Ein kleiner Systematisierungsversuch nach 75 Minuten Meinungsdurcheinander.

Eine TV-Kritik von Irene Helmes

Große Debatten ähneln sich. Was der Inhalt auch sein mag: Die Entwicklung vom konkreten Auslöser über das Chaos der ersten Reaktionen hin zur Grundsatzdiskussion ist ihnen gemeinsam. So ist aus einem Brüderle-Artikel im Stern inzwischen "die Sexismus-Debatte" geworden.

Waren brandneue Argumente oder überraschende Standpunkte zu erwarten beim Talk von Anne Will, an Tag acht nach dem Erscheinen des Porträts mit dem Titel "Der Herrenwitz"? Kaum. Akut ist inzwischen die Sinnfrage. Welche Interpretation der Problematik ist mehrheitsfähig? Und welche Schlüsse sind zu ziehen?

"Sexismus-Aufschrei - hysterisch oder notwendig?" hatte sich Will als Titel gewählt, und tatsächlich, die meisten der im Netz, an Mittagstischen und in Medien diskutierten Thesen tauchten auch in der ARD-Runde am Mittwochabend auf. Wie Irrlichter - manche kurz, manche hartnäckiger. Ein Systematisierungsversuch nach 75 Minuten Meinungsdurcheinander:

These: Es geht immer noch um Himmelreich und Brüderle.

Wer muss sich entschuldigen? Die Journalistin, der Politiker, keiner oder beide? Wie sich die Episode an der Bar im letzten Jahr zugetragen hat und was von ihrem öffentlichen Nachspiel zu halten ist - all das blieb kontrovers in der Runde bei Will, auch weil noch immer nur Laura Himmelreichs Beschreibung bekannt ist. Brüderle hat sich zu der Episode bislang nicht geäußert. Schnell waren sich alle einig: Es geht um viel mehr.

These: Es geht um die Frauen.

"Verbale, psychische und physische Gewalt gegen Frauen, das ist die Realität" - Heiner Geißler gab sich in der Sendung alle Mühe, seinem Ruf als "beste Frau der CDU" gerecht zu werden. Sein Credo: "Die Männer müssen sich ändern". So wurde der alte Herr in schwarzer Lederjacke zum "Ehrenfeministen" der Runde erklärt. Seine Haltung war derart entschieden, dass selbst die Grüne Renate Künast und die feministische Piratin Anke Domscheit-Berg vorsichtiger wirkten.

These: Die wahren Verlierer sind die Männer.

Als Gegenspieler für die Feministenfraktion hatte Will zwei weitere Gäste geladen. Der konservative Journalist Jan Fleischhauer wurde mit dem Eingangsstatement vorgestellt, er fühle sich "als Mann in Sippenhaft" genommen. Monika Ebeling war einmal Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Goslar, verlor ihren Posten aber wegen ihres Engagements für Männer. Von ihr kamen die provokanteren Aussagen. Ein Geschlecht sei nicht besser als das andere, so ihre Überzeugung. Deswegen seien Männer wie Frauen ähnlich oft die Opfer.

Von Männern und Schweinen

Dass auch die Feministin Domscheit-Berg betonte, Klischees wie "Männer sind Schweine" seien traurig und indiskutabel, war für Ebeling kaum eine Beruhigung. Männer, die belästigt werden, Männer, denen die eigene Frau ein Messer in den Rücken wirft (tatsächlich, nicht metaphorisch): Ebelings Beispiele brachten vor allem Geißler auf die Palme. Für die Mehrheit der Runde war das hier die falsche Baustelle. Ebeling selbst hielt ihre Argumente notwendig für eine geschlechtsneutrale Debatte.

These: Nicht alles in einen Topf werfen.

Vor allem von Fleischhauer kamen mehrmals Einwände gegen #aufschrei und die laufende Debatte im Netz. Für ihn kaum nachvollziehbar, ja absurd, wenn Frauen sich nun als "schockgefroren" wegen einer Grapscherei in der U-Bahn outeten. "Eine Verzerrung der Wirklichkeit" sei es, wenn solche Episoden auf einer Ebene diskutiert würden wie etwa massive sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.

These: Immerhin gibt es Fortschritte.

Sexismus im Berufsleben - dieser Aspekt hat sich in der vergangenen Woche als einer der Kernpunkte der Sexismus-Debatte herausgebildet. Und hier sei immerhin schon viel erreicht worden in den letzten Jahrzehnten, so Geißler: Die Männer, die Gesetzgebung, die Mentalität hätten sich "zweifelsfrei verbessert". Kollegin Künast sah es ähnlich.

These: Von wegen Fortschritt!

In manchen Branchen sieht es aber immer noch düster aus. Viele Hotelgäste glauben offensichtlich, dass sie mit dem Zimmer "die Frau vom Roomservice gleich mitbezahlt haben", heißt es in einem Einspieler zu den Zuständen im Hotelgewerbe. In der Regel werde vom Arbeitgeber der Gast beschützt nach dem Motto "stell dich nicht so an", oder die Frauen schwiegen aus Scham sowieso. Ein weiterer Einspieler zeigte, wie Angst um den Job und fehlende Strukturen verhinderten, dass Mitarbeiterinnen des Bundestages sich gegen Belästigung wehren.

These: Die Frauenbewegung hat versagt.

Ebeling glaubt, dass nach 40 Jahren Feminismus in Deutschland viele junge Frauen "doch nicht stark und selbstbewusst" genug sind, um sich gegen Belästigung zu wehren. Völlig falsch, protestierte Domscheit-Berg. Sie sei Feministin und "garantiert nicht feige", habe sich aber selbst schon in Vorahnung dessen, was ihr sonst geblüht hätte, nach Belästigungen für ihre Karriere und gegen eine Beschwerde entschieden.

These: Sexismus ist Mobbing.

Warum nicht nochmal eine Stufe grundsätzlicher diskutieren? Fleischhauer brachte noch eine Zusatzüberlegung ins Spiel. Auch Männer seien gerade im Beruf vielen Schikanen ausgesetzt. Mobbing eben, und das sei "nicht genderspezifisch". Klar sei das etwas Anderes als Sexismus - aber für den Einzelnen nicht weniger schwer zu ertragen.

These: Diese Debatte ist eine Chance.

Emotionalisiert sei die Sexismus-Debatte, unwissenschaftlich und einseitig, so der Vorwurf von Ebeling und teils auch von Fleischhauer während des Talks bei Will. Die Moderatorin und ihre drei anderen Gäste waren sich dagegen einig: Sie sei überfällig, wichtig und betreffe grundlegende Strukturen in Deutschland. "Das darf nicht nach einer Woche Talkshow-Strohfeuer vorbei sein", so Domscheit-Berg: "Wir haben diese Chance und wir sollten sie jetzt auch nutzen."

Weiterer Gesprächsbedarf besteht anscheinend selbst bei einer Runde von sechs Menschen - bei 80 Millionen dann vermutlich auch. Die Thesen irrlichtern vorerst weiter.

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