Süddeutsche Zeitung

Sesamstraße:Bibo geht in Rente

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Von Jürgen Schmieder

Ein sechs Jahre altes Kind. Das soll dieser fast 2,50 Meter große Vogel symbolisieren, der in einem Nest hinter dem berühmten Haus mit der Adresse Sesamstraße 123 wohnt, direkt neben der Mülltonne von Oscar. Er ist neugierig, dieser gelbe Vogel, der in der amerikanischen Originalversion der TV-Serie "Sesame Street" Big Bird heißt und in der deutschen Fassung Bibo. Er will alles wissen und ausprobieren und dann darüber philosophieren. Er ist die erste Figur, die vor 49 Jahren in dieser Kindersendung zu sehen war, sie wurde wie der Misanthrop Oscar schon damals von Caroll Spinney verkörpert.

Am Donnerstag hatte Spinney nun seinen letzten Arbeitstag. Er sprach ein paar Sätze für die Sondersendung zum 50. Jubiläum, die im kommenden Jahr ausgestrahlt werden soll. Dann fuhr er nach Hause. Einfach so.

Es heißt ja, dass ein Mensch, wenn er glücklich sein will, niemals erwachsen werden darf, dass er sein Leben lang kindlich und durchaus auch mal kindisch sein soll. Andererseits: Viele Schauspieler leiden darunter, wenn sie eine Figur mehrere Jahre verkörpern und damit identifiziert werden - zumal, wenn diese Figur kindlich und durchaus auch mal kindisch ist. Spinney war das egal, im Gegenteil: "Ich durfte fast 50 Jahre lang ein neugieriges Kind verkörpern und deshalb auch sein, und die Kinder haben mir das abgenommen. Es kann nichts Besseres geben."

Er hat sogar ein witziges Buch mit den Lebensweisheiten des gelben Vogels geschrieben: "The Wisdom of Big Bird (and the Dark Genius of Oscar the Grouch): Lessons from a Life in Feathers!" Die wichtigste Lehre seines Lebens in Federn: Habe Mitgefühl mit anderen!

Spinney kam am 26. Dezember 1933 in einer Kleinstadt im Nordosten der USA zur Welt; seine Mutter nannte ihn Caroll, weil sie an den Tagen vor der Geburt permanent Weihnachtslieder (Christmas Carols) gehört hatte. Er diente in der amerikanischen Luftwaffe und versuchte sich als Puppenspieler und Comiczeichner. Zunächst verarbeitete er damit seine Zeit beim Militär, später wurde er kindlicher und kindischer. Nachdem er im Jahr 1969 einen Auftritt beim Puppenspieler-Festival in Salt Lake City gehörig versemmelt hatte, sprach ihn Jim Henson an, der Erfinder von "The Muppets" und "Sesame Street". Er sagte: "Mir hat gefallen, was du versucht hast zu tun."

Es war der Beginn einer wunderbaren Partnerschaft, sie hat sich für Spinney auch privat gelohnt. "Ich bin ins Büro gekommen, da saß diese junge Frau, und ich dachte mir: Ach herrje, ich bin verliebt", so schildert Spinney den Moment, als er seine spätere Ehefrau Debra kennenlernte. Die sagte über diese erste Begegnung: "Da kommt Big Bird auf einen zu und unterhält sich mit einem. Was soll man da tun, außer gut gelaunt zu sein?" Die beiden sind seit fast 40 Jahren verheiratet.

Caroll Spinney war dieser freundliche gelbe Vogel, der die Welt entdecken möchte - er war in der "Sesamstraße" aber auch der konsequent miesmuffelige Oscar, noch so eine kindliche und manchmal kindische Figur. Im Jahr 2015 verzichtete er aufgrund körperlicher Beschwerden darauf, ins Big-Bird-Kostüm zu steigen, er spielte jedoch weiterhin Oscar und lieferte die Stimmen für die beiden. "Ich habe nie über den Ruhestand nachgedacht", sagt Spinney, und genau deshalb habe er vor, es auch jetzt nicht zu tun.

Es gibt für Caroll Spinney zwei Sterne auf dem Walk of Fame in Hollywood, einen für ihn selbst und einen für Big Bird. Die Kongressbibliothek der Vereinigten Staaten hat den Vogel im Jahr 2000 aufgrund seiner Verdienste um die amerikanische Gesellschaft zur "lebenden Legende" erklärt - als erste fiktive Figur übrigens und mit dem Hinweis, dass dieser Vogel wohl niemals sterben und damit für alle Zeiten eine lebende Legende bleiben werde. Caroll Spinney möchte, wie er sagt, mindestens hundert Jahre alt werden. Und dabei ein sechs Jahre altes Kind bleiben.

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Quelle:
SZ vom 19.10.2018
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