Serie: Wozu noch Journalismus?:Artikel als dauernder Zwischenstand

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Qualifikation durch Social Media

Die nächste, in einigen britischen Redaktionen sogar erzwungene Zusatzqualifikation ist der Umgang mit Social-Media-Plattformen wie Twitter und Facebook. Alan Rusbridger, Chefredakteur des britischen Guardian, sagte kürzlich, die Einrichtung einer persönlichen Facebookseite und eines Twitter-Accounts sei für alle seine Redakteure obligatorisch. "Höchstwahrscheinlich werden wir damit eines Tages mal ein Desaster erleben", glaubt Rusbridger. "Irgendeiner unserer Redakteure wird dort etwas schreiben, was er nicht hätte schreiben sollen. Und trotzdem glaube ich, dass Twitter vor allem für spezialisierte Redakteure sehr befreiend sein kann. Twitter erlaubt ihnen, auch Themen, die keinen ganzen Artikel rechtfertigen, anzureißen und sie können ihrer Leserschaft dort auch relevante Texte der Konkurrenz empfehlen."

Es ist dieser Mut zum Experiment und diese Bereitschaft zum Scheitern, mit der sich der Guardian das Vertrauen von inzwischen knapp 37 Millionen Nutzern auf der ganzen Welt (Unique Users pro Monat) erarbeitet hat. Auch der Konkurrent Daily Telegraph oder der Fernsehsender CNN treiben die Nutzung von Social Media mit Eile voran.

Rein technisch ist der Umgang mit Social Media für Journalisten schnell erlernbar. Jedes durchschnittliche Redaktionssystem ist komplizierter. Das Internet lässt aber die Grenzen zwischen kommerzieller und nicht-kommerzieller Sphäre, zwischen beruflicher und privater Identität und vor allem zwischen Amateur und Profi verschwimmen. Viele Journalisten fühlen sich dadurch in ihrer beruflichen Identität in Frage gestellt und reagieren aggressiv. Die unsinnige Diskussion etwa, ob Twitter denn überhaupt eine vertrauenswürdige journalistische Quelle sei, ist nur das jüngste Beispiel für Abwehrgefechte, die ohnehin nicht zu gewinnen sind, unsere Branche aber wertvolle Kraft und Zeit kosten.

Selbstverständlich ist Twitter in seiner Gesamtheit keine journalistische Quelle. Es wäre ähnlich absurd, darüber zu diskutieren, ob Telefone eine vertrauenswürdige Quelle sind. Sie sind es nicht. Einzelne, verifizierte Anrufer aber sind es und dasselbe gilt für verifizierbare, individuelle Twitter-Accounts.

Journalisten müssen berührbar sein

Journalisten, die bereit sind, sich in Social Networks, auf Twitter und vor allem in den Kommentar-Feldern unter ihren eigenen Texten zu äußern und den Stimmen dort zuzuhören, können viel gewinnen. Ja, sie müssen auch einstecken können. Selbst auf sorgfältig moderierten Websites ist es nie ganz auszuschließen, dass Redakteure beleidigt werden. Doch je offener sie sich zeigen, desto freundlicher und konstruktiver wird ihnen in der Regel begegnet. Und in einer mit genügend Moderatoren ausgestatteten Community bleiben Pöbler eine Randerscheinung.

In meiner eigenen Redaktion, Zeit Online, würden wir auf die Kommentare, die Hinweise und die oft auch unbequeme Kritik unserer Leser auf keinen Fall mehr verzichten wollen. Unsere Leser helfen uns täglich, kleinere - manchmal auch größere - technische oder redaktionelle Fehler rasch zu beheben. Sie weisen uns auf Themen hin, die wir eventuell nicht genug beachtet haben, sie schreiben eigene Texte, sie ergänzen unsere Artikel mit weiterführenden Links oder mit Argumenten, die unseren widersprechen. Und ja, sie loben uns auch hin und wieder. Unsere Leser helfen uns täglich besser zu werden.

Sukzessive kommen wir zu einer Arbeitsweise, in der unsere Artikel nicht mehr der Endpunkt des journalistischen Prozesses sind, sondern dauernder Zwischenstand. Aus den Kommentaren unserer Leser unter dem Artikel, auf Facebook oder bei Twitter entsteht oft die Idee zum nächsten Text; gelegentlich auch die unbequeme, aber wichtige Einsicht, einen Gedanken nicht zu Ende gedacht zu haben. Voraussetzung dafür ist, dass wir bereit und personell in der Lage sind, zuzuhören und mit unseren Lesern zu reden.

Leider gibt es bisher nur wenige Journalistenschulen, die den Redakteursnachwuchs auf diesen Dialog vorbereiten. Stephan Weichert und Leif Kramp, die beiden Initiatioren dieser sueddeutsche.de-Serie, liegen deshalb nicht ganz daneben, wenn sie uns Journalisten als die "Neandertaler der digitalen Ära" bezeichnen. Es ist schon ein erstaunliches Paradoxon, dass viele von uns die Fähigkeit zur Analyse und zur Kommunikation für Kernkompetenzen ihrer Profession halten, gleichzeitig aber bei der Analyse ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit und bei der direkten Kommunikation mit ihren Lesern so große Defizite zeigen.

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