Süddeutsche Zeitung

Serie:Im tiefen Tal der Lügen

Was passiert, wenn eine Frau erfindet, dass sie Brustkrebs hat? Die Arte-Serie "Eine kleine Lüge" zeichnet die Folgen einer einzigen Unwahrheit nach.

Von Hans Hoff

Eine Lüge kann wie ein Schneeball sein, der langsam ins Tal rollt und sich alsbald zur donnernden Lawine entwickelt. Besonders heikel wird es aber, wenn Lüge auf Lüge trifft, weil sich dann Ebenen öffnen, auf denen all das Falsche plötzlich kurz wie Wahrheit wirkt.

Was passiert, wenn alle nachlässig mit der Wahrheit umgehen, die einen mehr, die anderen weniger, zeigt sich in der französischen Miniserie Eine kleine Lüge. Die präsentiert die komplett überforderte Mutter Elvira, die ihre drei Kinder und ihren Lebenspartner zu versorgen hat und dafür keinerlei Dank erntet. Sie schafft sich bis zur Erschöpfung, aber alles, was sie tut, wird als selbstverständlich genommen. Dass ihr Chef sie auch noch gerne zur Schnecke macht und eine Freundin sie als Abladestation für ihr Kind missbraucht, fügt sich in das Bild einer konsequent missachteten Persönlichkeit, die irgendwie am Rande des Lebens mitzulaufen scheint.

Und dann ist da noch der ertastete Knoten in der Brust. Gottseidank ist er gutartig, sagt die Ärztin, nur eine harmlose Fettgeschwulst. Trotzdem wird der Knoten gegen Ende der ersten von sechs Folgen zum Schneeball, der sich in Richtung Tal aufmacht. In einem Moment der totalen Erschöpfung, behauptet Elvira einfach, sie habe da einen Tumor in der Brust. Einen bösartigen.

Auf einmal wird alles anderes. Von jetzt auf gleich wird der bisher sehr lustbetont aushäusig vagabundierende Freund vom leichtsinnigen Fremdgeher zum liebevollen Partner, der Elvira umsorgt. Mit der Zeit ändert sich auch das Verhalten der Kinder, die gleichfalls mit kleinen Ungenauigkeiten hantieren.

Als Elvira merkt, dass ihre kleine Lüge große Folgen hat, reagiert sie verunsichert und versucht, zurückzurudern. Aber da sind schon alle zu sehr verstrickt ins Geflecht der vielen Unwahrheiten. Über allem schwebt die Frage, warum man das Lügen sein lassen soll, wenn doch das Leben mit Lüge viel attraktiver erscheint als ohne.

All dies lassen die Drehbuchautorin Anne Berest und der Regisseur Fabrice Gobert in einer Art überperfekten Vorstadtsiedlung geschehen. Die Vorgärten sind allesamt akkurat gestylt, und die Insassen der anderen Häuser wirken mehrheitlich, als lebten sie ein Leben nach der Vorgabe von Fühlgutwerbespots in einer Kulisse, die sich nur schwer einer spezifischen Nationalität zuordnen lässt. Man weiß zwar, dass die Serie in Frankreich spielt, und einmal reist Elvira auch nach Nizza. Aber die meiste Zeit spielt alles in einem sterilen, ortlosen Raum, der eher an amerikanische als an französische Film- und Serien-Vorstädte erinnert.

Deutlich kontrastiert dort das innere Chaos von Elviras Sippe mit der äußeren Ordnung, was bisweilen zu beinahe surrealen Momenten fühlt. So spaziert Elvira irgendwann durch die Siedlung. Sie geht vorwärts, aber alle um sie herum bewegen sich rückwärts. Das ist ein feiner Effekt, der aber auf besondere Weise mit der Tatsache kontrastiert, dass der große Rest der Serie sehr konventionell inszeniert wurde. Man spürt, dass man sich hier in den Wettstreit mit internationalen Produktionen begeben wollte, aber im Ergebnis ist das schließlich doch mehr Lindenstraße als Desperate Housewives.

Eine kleine Lüge, Arte, Donnerstag, 21 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2019
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