Serie:Ausbrüche

Ben Stiller inszeniert nach einigen Filmen seine erste Serie "Escape at Dannemora" basierend auf einer realen Gefängnisflucht im Jahr 2015 in den USA.

Von Claudia Tieschky

Escape At Dannemora

Erst Sex, dann Gefängnisausbruch: Patricia Arquette spielt Aufseherin Tilly Mitchell, die dem verurteilten Mörder Richard Matt (Benicio del Toro) zur Freiheit verhelfen will.

(Foto: Christopher Saunders/Sky)

Schwer zu sagen, wie alt Tilly Mitchell ist. Ihr Gesicht ist teigig, sie trägt eine grobe Metallbrille, die Haare sind irgendwie gebleicht, wenn sie spricht, tut sie weinerlich. Es ist Januar und noch dunkel, sie steht im Morgenmantel am Fenster und lauert. Sie ist schon jetzt wütend. Der Schneeräumer zieht über die einsame Straße. In der nächsten Einstellung schaufeln Tilly und ihr Mann Lyle eingespielt ihren Pick-up vom Schnee frei, den der Pflug in die Einfahrt geschoben hat. Man sieht sie durch die vereiste Landschaft im nördlichen Staat New York fahren, während es hell wird und aus dem Radio die harmlose Welt quatscht.

Und sehr früh in dieser Serie fragt man sich, ob die von Patricia Arquette gespielte Tilly Mitchell mit ihrem schiefmäuligen, unterbelichteten Ehemann, mit ihrem von Elektroschrott umstellten Haus und dem Air-Force-Mom-Sweatshirt nicht ein genauso eingesperrtes Leben hat wie die Männer, die sie tagsüber in der Gefängniswerkstatt beim Nähen beaufsichtigt. Dort holt sie sich ihren jeweiligen Liebling zum Drei-Minuten-Geschlechtsverkehr ins Hinterzimmer; die Kritikerin des Atlantic schrieb über diese sehr deutlichen Szenen, sie seien die "leidenschaftliche Antwort des Fernsehens auf den (sonst für Literatur vergebenen, d. Red) Bad Sex Award".

Ben Stiller, Paris Match Issue 3372, January 8, 2014

Erste Serien-Regie weit weg von Hollywoodmustern: Ben Stiller.

(Foto: Kasia Wandycz/Paris Match/Getty)

Ausbruchs-Storys sind klassischer Stoff und gehören meistens ins Action-Genre. Solche Action liegt sehr fern in der Mini-Serie, die Ben Stiller nach dem Buch von Brett Johnson und Michael Tolkin inszeniert hat und die bis in die Details auf der wahren Geschichte eines Gefängnisausbruchs aus der Clinton Correctional Facility im Sommer 2015 beruht. Escape at Dannemora hat auch wenig mit jenem Serienfernsehen zu tun, das sich durch dramatisches Tempo auszeichnet. Stiller lässt sich viel Zeit, er erlaubt sich lange Einstellungen, die zu regelrechten Landschaftsgemälden mit Mauern mittendurch werden können. Bis die verurteilten Mörder Richard Matt (Benicio del Toro) und David Sweat (Paul Dano) mit Tillys Hilfe ihren Fluchtplan umsetzen, vergehen fünf der acht Episoden. Viel Zeit, um ganz langsam eine große Spannung zwischen den Figuren aufzubauen, um zu zeigen, wie Tilly nach der Affäre mit David etwas mit Richard anfängt und sie dann zu dritt den Ausbruch immer mehr wollen. Es ist eigentlich ein acht Stunden langer Spielfilm mit einer erstaunlichen Wendung in der letzten Folge, und das sagt einiges darüber aus, wie sich das serielle Erzählen in die Dimensionen des Romans hineinentwickelt.

Ben Stiller wurde berühmt als grandioser Komiker, seit einigen Jahren aber hat er die interessantesten Rollen in Independent-Produktionen mit Regisseur und Autor Noah Baumbach, in Greenberg etwa als depressiver New Yorker Musiker, der als Schreiner in Hollywood strandet, tolle, verknitterte Geschichten. Escape at Dannemora, seine erste Serien-Regie, geht noch weiter weg von Hollywood, hier wird von Amerikas unterer Mittelschicht erzählt, von Menschen, die nicht wegkommen und daraus einen seltsamen Stolz ziehen, und von einer selbstmitleidigen, intriganten Frau, deren Lebenswillen keine Moral kennt.

So wird mitten im Männerknast eine Frau die Hauptperson. Benicio del Toro ist unheimlich gut als Pate im Knast, der plötzlich von Mexiko träumt. Paul Deno gibt seinem David Sweat eine zähe Ausdauer, die nur von Gutwilligkeit zeugen kann. Aber die Wucht überhaupt ist Patricia Arquette, die für ihre Rolle für den Golden Globe als beste Hauptdarstellerin nominiert ist (die Produktion insgesamt ist als beste Miniserie nominiert). Arquette sei es völlig egal, ob der Zuschauer die Person mag, die sie spielt, sagte Stiller im Oktober bei der Serienpremiere in Cannes, und da hat er recht. Tilly Mitchells Oberteile sitzen bei der Arbeit so eng, als sei der dicke Körper darunter bis zum Platzen aufgeblasen. Alles an ihr ist hässlich, und richtig gemein ist sie auch, aber dann kauft sie sich einen bunten Badeanzug für Mexiko und lächelt wie ein Mädchen. Sie träumt, aber nur kurz.

Escape at Dannemora, bei Amazon*, Apple iTunes*, Sky Ticket* und Sky Go*

*Hinweis in Kooperation mit Just Watch: Über diese Links werden Sie auf eine Partnerwebsite weitergeleitet. Der Süddeutsche Verlag bekommt dafür in manchen Fällen eine Provision. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Berichterstattung der Redaktion der Süddeutschen Zeitung.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: