Es ist eine einfache Frage, an niemanden gerichtet und doch an die ganze Welt. Diese Frage ist das Kondensat der wunderbaren Serie Atlanta, die dem Leben von Afroamerikanern in den Vereinigten Staaten so nahe kommt wie kaum eine andere. Der Protagonist Earn sitzt nachts in einem Bus, seine Tochter ist in seinen Armen eingeschlafen, er spricht mit einem fremden Typen und doch eher mit sich selbst und natürlich auch mit dem Zuschauer: "Kann es sein, dass manche Menschen als Verlierer geboren werden, damit es die Gewinner einfacher haben im Leben?" Dann sieht er im Fenster das Abbild seiner selbst: ein junger Afroamerikaner, pleite, obdachlos, getrennt von und doch irgendwie zusammen mit der Mutter seiner Tochter. Was für ein Scheißleben!
Earn hat sein Studium an der Elite-Universität Princeton abgebrochen, kehrt nach Atlanta zurück und gibt nun für 5,15 Dollar pro Stunde am Flughafen den Kreditkarten-Verkäufer. Er will keine Villa, keinen teuren Champagner und auch keine Goldketten an Hals und Händen. Was er will: die Miete zahlen, seine Tochter auf eine anständige Schule schicken und deren Mutter ab und zu in ein Restaurant einladen, ohne seine Freunde anbetteln zu müssen. Er will nicht groß rauskommen. Aber er will einfach nicht mehr so klein sein wie bisher. Das ist der afroamerikanische Traum im 21. Jahrhundert.
Tragische und todtraurige Momente, die einen doch schmunzeln lassen
Es geht in Atlanta um Earns Leben als Gefühl, die Handlung ist nur der Rahmen für eine viel bedeutsamere Botschaft. Earn will seinen Cousin Alfred managen, der unter dem Künstlernamen "Paper Boi" ein Mixtape herausgebracht hat und zur lokalen Berühmtheit geworden ist. Alfred ist kein Rapper-Großmaul - obwohl das alle von ihm erwarten und ihn bejubeln, wenn er mal einen verprügelt oder gar abknallt -, sondern eher ein gemütlicher Teddy, der dem Ruhm skeptisch begegnet und lieber bekifft auf der Couch liegt, als in Nachtclubs mit leicht bekleideten Mädchen zu feiern.
"Ich muss rappen, weil mir nichts anderes übrig bleibt im Leben", sagt er. Die Botschaft: Earl und Alfred können sich nicht um morgen oder das große Ganze kümmern, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, heute zu überleben. Um morgen, da kümmern sie sich morgen.
Es gibt viele dieser kleinen Momente, der einfachen Fragen und der noch einfacheren Antworten, die so tragisch und todtraurig sind und einen doch schmunzeln lassen: Wenn Earn versucht, sich ein Kindermenü zu bestellen, weil er kein Geld für einen Burger hat. Wenn ihm ein überverständnisvoller Weißer die afroamerikanische Kultur erklärt und er dazu aufgefordert wird, endlich mal in Afrika seine Wurzeln zu erforschen.
Und natürlich gibt es fabelhafte Dialoge zwischen Earn und Alfred: "Ist die Milch noch gut?" - "Was willst du damit?" - "Trinken." - "Trinken? Nein, Mann, dafür ist sie nicht mehr gut." Oder: "Versuch einfach, nicht zu sterben." - "Jeden Tag, Mann. Jeden Tag."
Donald Glover (der auch den Protagonisten spielt) hat diese Serie erfunden, die einen nicht anspringt, sondern aufgrund der wunderbaren Figuren sanft berührt: Eine Episode handelt ausschließlich von Earns Immer-wieder-Freundin Van und den Problemen afroamerikanischer Frauen. Eine Folge beschreibt ausschließlich einen Blick in das schönere Leben, die sorgenfreie Existenz, die letztlich aber auch ziemlich bescheuert ist, weil man dafür seine Seele verkaufen muss. Und Alfred hat einen dauerbekifften Freund, Darius, der nicht alle Murmeln beisammen hat und doch mehr von der Welt versteht als alle anderen zusammen.
Aufgrund dieser stets wechselnden Blickwinkel kann Glover interessante Fragen stellen: Muss man die Transsexuelle Caitlyn Jenner sexy finden, nur um nicht als engstirniger Gegner der LGBT-Gemeinde dazustehen? Wie bezeichnet man einen Typen, der schwarz und asiatisch aussieht, aber auch mexikanisch-indischer Abstammung sein könnte??
"Nigger" ist das wiederkehrende Wort, das sich als Rhythmus ins Gehirn des Zuschauers trommelt, die Sujets Armut und Gewalt sind die Melodie und die bittersüßen Dialoge der Protagonisten die Verse eines melancholischen Rapsongs, der scheinbar zufällig zur Fernsehserie geworden ist. Atlanta ist wie "Tearz" vom Wu-Tang Clan, "Suicidal Thoughts" von The Notorious B.I.G. oder "All That I Got Is You" von Ghostface Killah, nur als Album mit bislang zehn Liedern, eine zweite Staffel ist in Planung.
Man könnte die Serie nun vergleichen mit anderen tragikomischen und genialischen Projekten wie Louie (von Louis C. K.) oder Master of None (von Aziz Ansari), man kann das aber auch bleiben lassen und Atlanta als magische Serie über Afroamerikaner in diesem Land betrachten, in dem sich die weiße Unterschicht vergessen fühlt - damit ist sie nicht allein. Wer in den vergangenen Wochen den Kopf geschüttelt hat über das, was in den Vereinigten Staaten passiert, dem sei diese Serie empfohlen. Er wird plötzlich ganz viel verstehen.