Scripted Reality:Echt nicht wahr

Richterin Barbara Salesch Sat.1 Gold Reality TV Scripted Reality

Alles soll möglichst echt wirken, auch bei "Richterin Barbara Salesch".

(Foto: Stefan Menne/ProSiebenSat.1)

Jeden Nachmittag gaukelt das Privatfernsehen seinen Zuschauern das reale Leben vor. Das ist günstig und macht Quote. Aber viele halten es für echt. Nun sollen die Regeln für die sogenannten "Sozialpornos" strenger werden.

Von Laura Hertreiter

Warum er zu den meistgebuchten Darstellern im deutschen Privatfernsehen zählt, kann sich Erwin Lennartz nicht erklären. Eine Schauspielausbildung hat der 40 Jahre alte Bankkaufmann nie gemacht. Er spricht flapsig-sonores Kölsch, vergräbt die Hände gern in seinen Hosentaschen und kann sich selbst wenig abgewinnen: "Ich habe mich immer gefragt: Wer will mich kleinen, unattraktiven Typen denn sehen?" Doch genau deshalb hat er Fernsehkarriere gemacht.

Lennartz steht hauptsächlich für Scripted-Reality-Sendungen vor der Kamera. Frei erfundene Alltagsdokumentationen über Familien, Makler oder Gerichtsverhandlungen, über schwangere Schulmädchen, adipöse Arbeitslose und promiskuitive Proleten. Gesellschaftsdramen. Oder auch: Sozialpornos. Die Sendungen mit Namen wie Verdachtsfälle, Pures Leben oder Berlin Tag und Nacht füllen seit Jahren das Nachmittags- und Vorabendprogramm im deutschen Privatfernsehen.

Schnell produzierter Trash

Ebenso lange stehen sie schon in der Kritik. Weil sie mit Laiendarstellern, krawalligen Drehbüchern, Wackelkameras und groben Schnitten billig und schnell produzierter Trash sind. Vor allem aber, weil sie mit genau dieser Art der Inszenierung bei vielen Zuschauern den Eindruck erwecken, das echte Leben zu dokumentieren.

Vor allem sehr junge oder sehr alte Zuschauer haben Studien zufolge oft den Eindruck, die Kameras hätten echte Nachbarschaftsstreits, Gerichtsverhandlungen oder Seitensprünge eingefangen. Die Kontrolleure der Landesmedienanstalten fordern deshalb seit Monaten, dass die Sender die Fiktion mit deutlichen Hinweisen im Vor- und Abspann kennzeichnen. Und jetzt macht auch die Politik Druck.

Lennartz dreht mehrmals pro Woche. Zwei bis vier Tage für eine Folge, für eine Tagesgage von 200 bis 600 Euro. Bis vor sechs Jahren hat er als Anlageberater gearbeitet, dann kam die Finanzkrise. Er spielt jetzt Dealer, Diebe, oder Schläger, oft unter seinem eigenen Namen. Das wollen die Produktionsfirmen, weil es echter wirkt - und er selbst, weil es ihm mehr Fans bringt.

Dilettantismus als Authentizitätsgarantie

Dass Lennartz als Schmuckdieb, Schnösel und Autoknacker mit immergleicher Miene die Fäuste in Mantel- und Hosentaschen schiebt und ab und zu ein Wort verhaspelt, ist nicht schlimm. Im Gegenteil: In der Scripted Reality wird der Dilettantismus zum Beleg für Authentizität. Wer so unsicher, ungelenk und ungeschminkt vor die Kamera tritt, muss echt sein.

Im vergangenen Herbst waren Gespräche zwischen Medienkontrolleuren aller Bundesländer und Vertretern des Verbands Privater Rundfunk- und Telemedien (VPRT) gescheitert. Die Sender hätten eine deutlichere Kennzeichnung bislang abgelehnt, sagt Thomas Fuchs, Chef der Medienanstalt Hamburg Schleswig-Holstein. Er hofft nun auf eine zweite Gesprächsrunde im Frühjahr. "Falls die Sender auch dann nicht zu einer Selbstverpflichtung bereit sind, setzen wir uns für eine Kennzeichnungspflicht per Gesetz ein."

Eine lange Tradition

So groß wie jetzt war der Druck noch nie: Ende Januar haben SPD und Grüne die Forderung des Medienwächter aus dem Norden mit einem Antrag im Landtag von Schleswig Holstein unterstützt. In mehreren anderen Bundesländern laufen ähnliche Anträge. Die Sender selbst schweigen. Ein VPRT-Sprecher wollte sich zu den Gründen, die gegen eine Kennzeichnung sprechen, nicht äußern. Dass die Dramen auf dem Bildschirm möglichst echt wirken, scheint jedenfalls ein unverzichtbares Erfolgskriterium zu sein.

Im privaten Nachmittagsfernsehen hat das eine lange Tradition. Vor rund 15 Jahren etablierten sich Geschichten aus dem echten Leben in Talkshows wie Arabella Kiesbauer und Ilona Christen. Kleinbürgerliche Freundschafts- und Liebesgeschichten. Die Quote stimmte, bis die Normalo-Sorgen zu langweilen begannen. Um gegen sinkende Quoten und Werbeeinnahmen anzukämpfen, mussten immer spannendere Menschen, immer stärkere Geschichten her. Bald wichen die wahren Fälle in Talkrunden, Gerichtssendungen und Dokusoaps den schrilleren, von Drehbuchautoren geschriebenen und von Laiendarstellern gespielten Plots. Und weil fiktive Charaktere keine Persönlichkeitsrechte haben, stieg das Fremdschäm-Potenzial.

Pseudorealer Alltagswahnsinn

Seither spulen RTL, RTL 2, VOX und Sat 1 die Formate im Dreiviertelstundentakt ab. Warum der pseudoreale Alltagswahnsinn so viele Menschen vor den Fernseher lockt? Für die Hamburger Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher ist Scripted Reality die Fortführung einer historisch konstanten sozialen Funktion: Die Sendungen befriedigen ihr zufolge eine immer da gewesene Lust am Beobachten des Elends anderer: "Früher schaute man öffentliche Enthauptungen an, heute eben Dokusoaps".

Dazu passt, dass die Sender ihre Elendsspektakel nur ungern mit dem Label "Fake" versehen wollen. Bisher kennzeichnen sie laut VPRT "uneinheitlich und freiwillig". Das heißt, dass im Abspann mancher Sendungen kurz Sätze wie "Alle Handlungen sind erfunden" aufblitzen.

Für die Medienkontrolleure ist das keine Lösung. Auch Erwin Lennartz hat unzählige Freunde und Kollegen erlebt, die schockiert waren, einen verkleideten Erwin in einer vermeintlichen Doku zu sehen. "So geht es selbst meiner 80-jährigen Mutter", sagt er. Obwohl sie wisse, dass ihr Sohn nach Drehbuch spielt, sei sie auf ihrer Couch oft genug schockiert - weil Lennartz häufig Straftäter spielt. "Klar, ich sehe südländisch aus, also bin ich der perfekte Ganove", sagt er.

Plakativ inszenierte Klischees

Eine Sprecherin der Agentur Casting Concept, die Lennartz schon unzählige Male vermittelt hat, bestätigt das: "In Reality-Formaten werden Klischees bedient. Und so wird auch gecastet: Bildungsbürger sind Brillenträger, Schurken oft Ausländer und Arbeitslose sollen möglichst bequem aussehen." Die Botschaft eines so plakativ inszenierten Alltags ist fragwürdig - und der Anspruch, eine "Realitydoku" zu sein längst nicht das einzige Problem.

Trotz aller Kritik und langsam sinkender Quote setzen die meisten Privatsender weiter auf Scripted Reality, denn der Sendeplatz könnte nach wie vor kaum günstiger gefüllt werden. Der Dokumentarfilmer Andres Veiel (Black Box BRD) schätzte die Kosten einer halbstündigen Sendung in der Berliner Zeitung auf etwa 30 000 Euro. Ein abendfüllender Dokumentarfilm koste das Zwanzigfache.

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