Schweizer Gratis-Zeitung "20 Minuten":Alles umsonst

Schweizer Gratis-Zeitung "20 Minuten": Der Sitz der Tamedia AG in Zürich. Der Verlag gibt unter anderm die Gratis-Zeitung "20 Minuten" heraus

Der Sitz der Tamedia AG in Zürich. Der Verlag gibt unter anderm die Gratis-Zeitung "20 Minuten" heraus

(Foto: Imago Stock&People)

Das Schweizer Gratisblatt "20 Minuten" gilt als die rentabelste Zeitung in ganz Europa. 240 Mitarbeiter schreiben für das Blatt, das täglich mehr als zwei Millionen Leser hat. Konkurrenz droht nur aus dem Online-Bereich.

Von Wolfgang Koydl

Auf dem Teller mögen alle leichte Kost - appetitlich, bekömmlich, abwechslungsreich. Doch als Druckwerk hat sie einen schlechten Ruf: Da gilt sie als seicht, oberflächlich und ein wenig dümmlich. Marco Boselli kann das nicht nachvollziehen. Er produziert leichte Zeitungskost, und bisher haben sich weder die Leser noch die Verleger beschwert. Im Gegenteil: Sein Produkt, die Schweizer Gratiszeitung 20 Minuten, gilt in der Branche als die rentabelste, profitabelste und lukrativste Zeitung ganz Europas.

News in prägnantester Kurzform, Klein-Reportagen, Service und Lebenshilfe - das sind die Themen, mit denen die 240 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von 20 Minuten jeden Morgen mehr als zwei Millionen Leser erreichen - und zwar in allen Teilen der Eidgenossenschaft, von Genf bis nach Graubünden, von Schaffhausen bis nach Chiasso an der Grenze zu Italien.

Sie ist die erste Schweizer Tageszeitung, die in allen drei großen Landesteilen erscheint, mit eigenen Redaktionen in Zürich, Basel, St. Gallen, Bern, Luzern, Lausanne, Genf und Lugano. Ein sprachlich derart umfassendes Angebot bietet sonst nur der Staatssender SRG, und der lässt sich diesen "service publique" mit den höchsten TV- und Radiogebühren Europas vergüten.

20 Minuten beziehungsweise 20 minutes und 20 minuti hingegen ist gratis - in der Printversion ebenso wie in der Online-Ausgabe. In beiden Ausführungen ist das Blatt die Nummer eins im Land: Die Druckauflage liegt bei 730 000 - das sind mehr als doppelt so viele Zeitungen, wie der nächste Konkurrent, die - kostenpflichtige - Boulevardzeitung Blick druckt. Und elektronisch "liegen wir ganz eindeutig vor allen anderen", wie Boselli betont.

"Es geht uns gut"

Der 48-Jährige mit Mailänder Wurzeln ist Chefredakteur des Unternehmens, das seit 2005 zum Tamedia-Konzern gehört, der mehrere klassische Tageszeitungen und Fachpublikationen in der West- und in der Deutschschweiz herausgibt, darunter den Zürcher Tages-Anzeiger und das Wirtschaftsblatt Finanz und Wirtschaft. Obwohl Boselli keine Zahlen nennt, dürfte sein Pendlerblatt finanziell das beste Pferd im Tamedia-Stall sein. "Es geht uns gut, danke sehr", sagt er lediglich auf Fragen nach Umsatz und Gewinn. Wie gut, das deutet er nur indirekt an, wenn er ein Luxus-Problem erwähnt: "Wir könnten wesentlich mehr Exemplare drucken", gibt er zu, "aber wir tun das nicht, weil dies nur unsere ohnehin schon hohen Anzeigenpreise in die Höhe treiben würde."

Jetzt lesen im Schnitt drei Menschen jedes Exemplar von 20 Minuten, eine Reichweite von 35 Prozent. Besonders beeindruckend - und für die Zukunft ermutigend - ist die hohe Zahl junger Leser, die allmorgendlich in Bus, Tram oder S-Bahn nach dem Freiblatt greifen.

"Zukunft war online"

In Deutschland konnten sich Gratiszeitungen bislang nicht durchsetzen. "Fast schon mit mafiösen Methoden" hätten deutsche Verleger die Eindringlinge fertig gemacht, sagt Boselli, als die norwegischen Ur-Väter des Umsonst-Konzepts vor mehr als zehn Jahren in Köln Fuß zu fassen versuchten. Außerdem hätten Verleger Gratiszeitungen "lange nicht auf dem Radar gehabt", fügt er hinzu: "Die Zukunft war online, und gratis war etwas für dumme Menschen." Warum es beim deutschen Nachbarn noch immer keine Gratisblätter gibt, weiß der Schweizer ebenfalls: "So ein Konzept funktioniert nur im nationalen Rahmen", ist er überzeugt, "und das kostet sehr, sehr viel Geld." Zudem würden Regionalverlage, die bisher kaum elektronische Konkurrenz zu fürchten haben, erbitterten Widerstand leisten, sobald kostenfreie Publikationen auf ihren geschützten Heimatmärkten zu wildern begännen.

Auf heimische Konkurrenz wird sich freilich schon bald auch 20 Minuten einstellen müssen, zumindest im Online-Bereich. Auf den überraschenden Namen "Watson" hört das Projekt eines neuen Online-Portals für weiche Unterhaltungsnews, das derzeit von dem Aargauer Regionalverleger Peter Wanner (AZ Medien AG) vorangetrieben wird. Rund 20 Millionen Franken will er nach Medienangaben in den kommenden drei bis vier Jahren investieren. Er hofft, in derselben Zeitspanne 20 Minuten vom Thron des Online-Spitzenreiters zu stoßen. Zielgruppe sind Smartphone-Nutzer, die ihre Informationen praktisch nur noch über das Handy beziehen.

"Natürlich muss man jede Konkurrenz ernst nehmen", betont Boselli vorsichtig mit Blick auf Watson. "Aber ich jedenfalls möchte nicht gegen uns antreten müssen. Tamedia hat in den vergangenen Jahren viel Geld investiert, um uns zu dem zu machen, was wir heute sind - online und im Print."

Lebendes GegenbeispielZudem kennt auch Boselli die Binsenweisheit, dass trotz Elektronik-Hype im Verlagswesen echtes Geld immer noch mit gedruckten Zeitungen verdient wird. Von Bezahlschranken für Online-Inhalte, wie sie in der Schweiz mit offenkundig kläglichem Ergebnis die Neue Zürcher Zeitung vor einem Jahr eingeführt hat, hält er entsprechend wenig. "Wir sind das lebende Gegenbeispiel", betont er. "Bei uns ist alles frei - Druck und Online."

Einen älteren Konkurrenten kann 20 Minuten ohnehin fast ignorieren. Der Blick am Abend ist die Gratisversion des Blick und wird - im Gegensatz zu Bosellis Morgenblatt - an die Feierabend-Pendler verteilt. Bei Auflage und Reichweite fällt das Produkt des Ringier-Verlags jedoch weit hinter 20 Minuten zurück. Das liegt unter anderem auch an der Erscheinungszeit: abends wandern die Blätter durch weniger Hände als am Morgen. Aber mit einem Blick am Morgen hätten die Boulevardmacher nicht nur 20 Minuten, sondern auch ihr eigenes Bezahlblatt attackiert.

Letztlich aber kommt es auch bei kostenlosen Blättern auf inhaltliche Qualität an. Boselli zumindest ist sich sicher, dass "wir besser sind als unser Ruf: Wir haben tolle, eigene Geschichten, kompakt geschrieben auf 50, 60 Zeilen - und das ist nicht einfach." Er kann belegen, dass sich nicht nur einfaches Volk von leichter Kost verführen lässt. Auch bei den nach Ausbildung, Einkommen und beruflicher Position führenden Menschen liegt 20 Minuten nach einschlägigen Erhebungen an der Spitze: "Noch vor der NZZ."

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