Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingskrise:Gewissensqual, die übergeht in Schuldgefühle

Eine Studie zeigt, dass Reporter ihre Eindrücke von der Flüchtlingskrise nur schwer verarbeiten. Sie sind psychisch zwar nicht so belastet wie Traumatisierte, doch im Alltag tun sie sich oft schwer.

Von Bernd Kastner

Zwei Jahre liegt der Höhepunkt der Flüchtlingskrise zurück. Zwei Jahre sind vergangen, seit das Foto von einem syrischen Jungen, der tot am türkischen Strand angespült wurde, um die Welt ging; Aufnahmen von Bergen abgelegter Schwimmwesten auf griechischen Inseln; und von den Menschen, die am Bahnhof von Budapest festsaßen.

Im kollektiven Gedächtnis verblassen diese Bilder langsam wieder. Bei jenen aber, die damals fotografiert und geschrieben haben, wie es den Flüchtlingen nach ihrer Ankunft in Europa erging, bei diesen Journalisten hat sich das Jahr 2015 tief eingebrannt. Wie gingen und gehen sie um mit dem Erlebten in dieser humanitären Krise?

Eine Studie des Reuters Institute for the Study of Journalism an der Universität Oxford geht erstmals dieser Frage nach und kommt zu einem Ergebnis, das nicht wirklich überrascht, aus der die Branche aber Lehren für künftige Krisen ziehen sollte.

Moral Injury, mit diesem englischen Fachbegriff fassen die Studienautoren Anthony Feinstein und Hannah Storm zusammen, was vielen Journalisten so zusetzt, die rund ums Mittelmeer im Einsatz waren. Moral Injury lässt sich mit Gewissensqual übersetzen, die übergeht in Schuldgefühle.

Es ist ein Zustand, in dem der eigene moralische Kompass durcheinander gerät, wenn man nicht mehr weiß, was richtig oder falsch ist an dem, was andere tun und man selbst tut.

Erstmals im Leben eine Leiche gesehen

Bislang beschäftigte sich die Forschung mit Journalisten, die aus Kriegs- oder Katastrophengebieten berichteten und oft unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Erstmals rückt nun Moral Injury in den Fokus. Es ist keine Krankheit, aber eine ernst zu nehmende Folge der intensiven Krisenberichterstattung, die, wieder zurück im Büro oder der eigenen Familie, das Alltagsleben mitunter schwer macht.

80 Journalisten haben die Autoren befragt, und dabei statistisch Verwertbares gesammelt: Drei Viertel von ihnen etwa gaben an, Geschehnisse beobachtet zu haben, die ethisch nicht in Ordnung waren.

Zugleich haben Feinstein und Storm auch unzählige Geschichten gehört, die die Dramatik jener Monate spiegeln. Will Vassilopoulos zum Beispiel, ein griechischer Journalist, berichtet, wie er erstmals an einem Urlaubsstrand auf Lesbos eine Leiche sah, es war die eines Kindes. "So ein kleiner Körper. Ich ging um ihn herum. Ich dachte an meine Kinder." Er lief weiter und entdeckte die Leiche eines alten Mannes.

Journalisten sollten nicht versuchen, diese Krise zu lösen

Es waren so viele Tote, dass der Bestatter sie nicht alle tragen konnte, also halfen Reporter und brachten die Ertrunkenen zum Leichenwagen. "Ich bin am Boden zerstört. (...) Warum passiert dies? Warum geschieht dies einem kleinen Jungen?" Der Reporter wurde für seine Arbeit mit einem Journalistenpreis geehrt. Manchmal quält ihn der Gedanke, dass er ausgezeichnet wurde, weil Menschen großes Leid erfuhren.

Der Fotograf Yannis Behrakis erinnert an die eine Frage, die es damals immer wieder zu beantworten galt, ganz schnell: "Oft bist du nicht sicher, was du tun sollst: die Kamera beiseitelegen und aktiv den Menschen helfen, die aus dem Meer kommen (...), ihnen Kleidung geben, oder Fotos von ihnen machen."

Die Studienautoren geben zwei Empfehlungen: An die Chefs in den Redaktionen, ihre Kollegen auf den Einsatz im Krisengebiet besser vorzubereiten und zu begleiten. Und an die Reporter an den europäischen Grenzen: Selbstverständlich darf man sich anrühren lassen vom Leid der Flüchtlinge, aber Journalisten sollten nicht versuchen, diese Krise zu lösen. Sie können es nicht.

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Quelle:
SZ vom 12.07.2017/pak
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