"Schockwellen":Mord mit Aussicht

"Schockwellen": Einst die Muse Truffauts, spielt sie in Schockwellen die Muse eines Schülers: Fanny Ardant.

Einst die Muse Truffauts, spielt sie in Schockwellen die Muse eines Schülers: Fanny Ardant.

(Foto: Bande à part Films / J. Lapoir)

Ein Gruppensuizid, ein Schüler, der scheinbar ohne Motiv seine Eltern tötet: "Schockwellen" macht echte Kriminalfälle, die in der Schweiz für Aufsehen sorgten, zur Miniserie. Dabei steht jede der vier Folgen für sich - mit eigenen Autoren und Schauspielern wie Fanny Ardant.

Von Runa Behr

Wie groß er das Loch denn graben solle, fragt Hugo. "Wie groß bist du?", entgegnet seine Mentorin. Sie beerdigen Hugo symbolisch, ihn, der die Sekte beinahe verlassen hätte. Eine Beerdigung jeglicher Freiheit, eingetauscht gegen eine trügerische Illusion von Glück. Zu einer Art Feuerbestattung kommt es Tage später, die achtundvierzig Sektenmitglieder im brennenden Haus sind schon zuvor tot - ein Gruppensuizid, teils freiwillig, teils weniger.

Regisseur Frédéric Mermoud erzählt in seinem Film Reise ohne Rückkehr von einer wahren Begebenheit, dem Gruppensuizid der Sonnentempler im Schweizerischen Wallis. 1994 war das. Der Fall hat damals Schockwellen ausgelöst - daher auch der übergeordnete Titel der vierteiligen Miniserie, die wahre Schweizer Kriminalfälle nacherzählt. Die Episoden sind nur durch dieses Überthema miteinander verbunden, stehen sonst für sich, Filmemacher und Schauspieler wechseln.

So hat etwa Ursula Meier Regie geführt beim Fall von Benjamin (Kacey Mottet Klein), der 2009 in Lausanne geschah. Dass seine Lehrerin ihn im Gefängnis besuchen muss, tut ihm leid. Nicht aber, dass er seine Eltern ermordet hat, offenbar ohne jegliches Motiv. Die Woche vor der Tat dokumentiert er im Tagebuch des Todes - so heißt auch der Film. Direkt nach der Bluttat schickt Benjamin es an seine Lehrerin Madame Fontanel. Sie wird gespielt von Fanny Ardant, einem der großen Gesichter der Nouvelle Vague, der letzten Muse François Truffauts.

Durch seine Aufzeichnungen schiebt der Junge ihr eine Rolle zu, die sie zunächst weder versteht noch annehmen will. Sie fühlt sich verantwortlich, hat sie ihn doch zum Schreiben animiert. Aber sie dringt nicht durch zu ihm, der den Kopf in den Wolken zu tragen scheint, voll von Gedanken - philosophisch versponnen, pubertär gesprenkelt, von Dunkelheit durchzogen. Fast schon literarisch hat er das auf Papier gebracht, am Beispiel seiner Texte hat Fontanel mit ihrer Klasse Ödipus und den Vaterkomplex abgehandelt, alles ganz lehrplankonform. Literatur und Wirklichkeit bedingen sich hier gegenseitig. Benjamin, der Elternmörder - das scheint einfach passiert zu sein. Lang geplant, aus Hass auf den Vater. Ob er den Vater erschoss, weil der zu viel aß, dieses eine Mal am Mittagstisch? Und die Mutter noch dazu, damit sie nicht als Witwe allein bleibe, fragt der Kommissar. Benjamin schaut ihn mit bergseetiefen Augen an, zuckt mit den Schultern: "Ich weiß es nicht." Man glaubt ihm das.

Regisseurin Ursula Meier erzählt, aber sie wertet nicht, ordnet nicht ein. Sie gibt auf komplexe Fragen lieber gar keine Antworten als unzureichende. Das macht die Miniserie stark, erschaffen die einzelnen Filme doch ebenjene Leerstellen, die solche Taten hinterlassen, die Ratlosigkeit, die nachhallt - selbst dann, wenn man die Filmwelt schon längst wieder verlassen hat.

Schockwellen, Arte, 20.15 Uhr; Teil 3 und 4 27. Juli.

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