Schauspieler Charly Hübner:Bärenstark und butterweich

Charly Hübner bringt eine aparte Grobheit ins deutsche Fernsehen. Als "Polizeiruf"-Ermittler ist er zum Sonntagabendmann zwischen Tagesschau und Jauch avanciert und spielt den unberechenbaren Bären mit beruhigender Imposanz. Dass er auch anders kann, zeigt er nun im ARD-Film "Unter Nachbarn" - als sozial gestörtes Müttersöhnchen.

Martin Wittmann

Ins Cafe Keese haben sie einen Boxring gestellt, als wäre die Adresse nicht schon männlich genug. Draußen auf der Reeperbahn scheint der Frühling, drinnen riecht es nach Schatten und nach Dunkelrotlicht. Bukow kommt rein, die dünnen Boxerbeine in engen Jeans, die Schultern wie kampfbereit nach vorn geschoben, dazwischen die Wampe und die Arme, die beim Gehen nicht schwingen, sondern Luft wegschaufeln, dicke Luft.

Charly Hübner ARD

Er hat ein großes Herz, und früher hat Charly Hübner alles gedreht, was ging. Heute dreht er nur noch alles, was dieses große Herz mag. Der ARD-Fernsehfilm Unter Nachbarn gehört dazu.

(Foto: dapd)

Hast du Thomsen umgebracht?", schnauzt er seinen Vater an, der in dem Laden arbeitet. Der Alte wiegelt ab und verschwindet hinterm Tresen. Bukow schweigt drei Sekunden, dreht sich um und raunt: "Scheiße".

Die Szene wird ein zweites Mal gedreht. Bukow lässt dieses Mal das Fluchen weg, stattdessen schlägt er beim Rausgehen auf das Geländer.

Beim dritten Mal schweigt Bukow und geht einfach. Jetzt sind sie glücklich am Set. Denn Bukow braucht die "Scheiße" nicht, genausowenig das Schlagen. Bukow braucht nur Hübner.

Seit sechs Folgen spielen Charly Hübner und Anneke Kim Sarnau im Polizeiruf 110 die Ermittler, und die fünf bisher ausgestrahlten waren alle toll. So ist Hübner zum Sonntagabendmann geworden, zu einem, mit dem mehr als acht Millionen Zuschauer zwischen der Tagesschau und Jauch rechnen: unser Charly, Pistolenprogramminventar.

Eine Physiognomie in biederster Deutlichkeit

Er hat den unberechenbaren Bären etabliert, den weibliche und männliche Zuschauer gern beobachten beim innerlich Kochen. Die einen, obwohl Hübner nicht wirklich, oder besser gesagt: wirklich nicht gut aussieht und eben eine ordentliche Wampe hat. Die anderen deswegen.

Und nun, da die Zuschauer seine massige Erscheinung mit aparter Grobheit und beruhigender Imposanz verbinden, haut er den Robert in dem ARD-Film Unter Nachbarn raus, der seine Physiognomie in biederster Deutlichkeit zeigt. Er spielt ein sozial gestörtes Müttersöhnchen so beklemmend, dass man gleich zu wissen glaubt, dass dieser Bauch von fataler Überfürsorge stammt, vom Selbstgebackenen für Mamas Bärchen.

So unterschiedlich kann er wirken, dass einem dabei wieder einfällt, wie oft man die vielen Charly Hübners schon vor dem Polizeiruf gesehen hat, in Krabat, Das Leben der Anderen, in Ladykracher und auch in Tatort-Folgen. Hübner braucht Bukow gar nicht.

Wohlfühlstadt Hamburg

Charly Hübner hat sich umgezogen, die Jeans ist jetzt weiter, das Hemd aufgeknöpft. Er sitzt an der Elbe, vor einem Teller Spargel. Wie wohl er sich in Hamburg fühlt, zeigt sich, als er von der "Ruhe hier am Wasser" schwärmt, während der Hafen in Moll dröhnt. Seit zehn Jahren lebt er in Hamburg, wo der Rostocker Polizeiruf aus Kostengründen größtenteils gedreht wird.

Vor zehn Jahren begab sich der Mecklenburger auf die Suche nach einem neuen Zuhause, nach einem Ort, "wo ich gerne wohne, auch wenn ich keine Arbeit bekomme". Köln, München und Hamburg standen zur Auswahl, aber Köln sei schnell ausgeschieden, sagt er, und in München habe er während eines Drehs schon nach zehn Tagen Magenschmerzen bekommen. Hübner ist damals in einer Krise, vom Theater müde gespielt, wenn man es dann genau wissen will:

Ich fand es irgendwann sinnlos, sich über Monate in einem Raum einzuschließen, gemeinsam zu zehnt die Welt scheiße zu finden, krasse Konzepte zu entwickeln, sich in Streits zu verwickeln, unter der Gürtellinie, mit Leuten, die man jeden Tag sieht, das macht einen zwischenmenschlich kaputt, das ist zum Teil bis heute nicht reparabel.

Alles auf Anfang in der Jugend

Drüben in New York stürzen zwei riesige Türme ein und wir diskutieren hier, ob die protestantische Revolution in Schweden um 1600 richtig war. Und irgendwann sieht man nur noch Menschen, die schon Jahrzehnte in derselben Stadt dabei sind, bei denen der Weg zum Bierhahn immer der erste ist. Irgendwann kannst du dann den Text nicht mehr und gründest in einer alkoholisierten Nacht eine Familie. Da musste ich mich rausziehen. Dafür mach' ich meinen Beruf zu gern." Punkt.

Dazu muss man wissen, dass Hübner, Jahrgang 1972, nicht auf der Bühne aufwuchs oder in den Diskursen eines Regie-Haushalts erzogen wurde. Bis zu seinem siebten Lebensjahr wohnte er im familiengeführten Waldhotel zwischen zwei Seen. Als der Vater in die Kulturpolitik einstieg, zogen sie in ein größeres Dorf. Mit Theater war dort nicht viel. Im DDR-Fernsehen sah er kaum mehr als die Flimmerkiste, ein Kinderprogramm.

Einmal unterhielt er sich mit Arne aus der 9. Klasse auf dem Fußballplatz. Arne fragte, was Hübner einmal werden wolle. "Erst nach Leipzig, auf die Hochschule für Körperkultur, dann ein paar Jahre Leistungssport, als Leichtathlet oder Handballer, und später Trainer", sagte der Schüler Hübner.

Als Arne meinte, er selbst wolle Schauspieler werden, lachte Hübner - weil das doch kein Beruf sei, meinte der Junge, der Sportler werden wollte. Ein paar Jahre später wurde bei Hübner ein gefährlich großes Herz diagnostiziert, das keine Athletenkarriere ausgehalten hätte. Alles auf Anfang.

Hübner war 17, als eines Tages sein Bruder aus dem Haus stürzte und vom Ende Honeckers erzählte und beide zu weinen anfingen, weil sie nicht wussten, was das zu bedeuten hatte. Über einen Freund kam er schließlich zur Schauspielerei. Er verließ seinen Heimatort, in dem der Vater nun an der DDR wie an der BRD litt, ging nach Berlin und kam zur Ernst-Busch-Schauspielschule. Er war alt genug, um Beruf und Berufsbild zu unterscheiden. Den Sportler aber wurde er nicht mehr los.

Im Akkord beim Film

Hübners Handy klingelt, es ist seine Freundin Lina Beckmann, mit der er in Köln in Dostojewskis Der Idiot spielt. Daneben dreht er ein paar Filme und spielt zwei Mal im Jahr den Bukow. Andere Schauspieler erzählen zuweilen von der schwierigen Zeit vorm Durchbruch, in denen sie zu wenig Arbeit hatten. Bei Hübner ist es andersherum.

Beim Theater am Turm in Frankfurt hatte er 35 Stücke in fünf Jahren, und nach seiner Krise machte er im Akkord beim Film weiter. Allein 2005 drehte er 17 Filme und nennt das heute ein Experiment - "alles, was ging". Im Jahr darauf drehte er nur, was ihm "am Herzen lag", aber dieses Herz, es hält die Dauerbelastung nicht aus. Der Marathon-Mann muss regelmäßig auf die kurze Strecke. 2009 wurde ihm der Polizeiruf angeboten.

Bukow heißt anfangs noch ganz anders, und viel mehr als ein Gerüst gibt es ohnehin nicht: ein Ermittler kehrt mit Familie aus Berlin zurück in seine Heimatstadt Rostock, wo er auf eine Frau vom Landeskriminalamt trifft, die seine zwielichtige Vergangenheit beleuchten soll.

Fragen, die in keinem Drehbuch vorkommen

Die Rolle zu ergründen sei eine "Tüftelei" gewesen, sagt Hübner, ein "Goldschürfen". Es gebe doch auch einen mathematischen Ausdruck dafür, aber er kommt nicht drauf. Draußen trötet ein Tanker und vertont sein Grübeln. Hübner könnte es auch Training nennen. Arne ist übrigens Schlosser geworden.

Vielleicht spiel' ich den Bukow 15 Jahre lang", sagt Charly Hübner, wer weiß, womöglich ist es wie bei Götz Georges Schimanski, mit dem Bukow nicht nur wegen der "Scheiße" oft verglichen wird. Deshalb muss Hübner sich ein Leben ausdenken, eine Biografie, deren Wurzeln bis zu Großvaters Lebzeiten, bis zum Krieg zurückreichen.

Dazu die Fragen, die in keinem Drehbuch vorkommen: Was frühstückt der? Wie bindet der sich die Schuhe? Was macht der mittwochs? Welches Sternzeichen hat er? Welches Hobby? Was isst er am liebsten? Warum ist ein ehemals Krimineller wie der überhaupt Polizist geworden? Und wie trägt der seinen Bauch?

Weil er all diese Fragen für sich beantwortet hat, spielt er den Bukow so, dass der einfach mal drei Sekunden die Klappe halten kann.

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