"Anne Will" zu Arbeitsüberlastung:Die Menschwerdung der Sahra Wagenknecht

Anne Will; Sahra Wagenknecht bei Anne Will, 17.03.2019

Sahra Wagenknecht (Mi.) bei Anne Will (li.).

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)
  • Sahra Wagenknecht zieht sich wegen Überlastung aus der Politik zurück.
  • In der Talksendung "Anne Will" gibt die Linken-Politikerin Einblicke in ihr Seelenleben.
  • Wie man Leute von der CDU und FDP fachgerecht auseinandernimmt, zeigt dabei ein anderer.

Von Thomas Hummel

Äußerlich ist alles unverändert. Sahra Wagenknecht hat sich ihre Uniform angelegt: Hochgesteckte Haare, perfekte Schminke, baumelnde Ohrringe, schwere Kette. Jackett und Dreiviertelrock in gleicher Farbe, diesmal Gelb wie ein Rapsfeld. Dazu Schuhe mit mittelhohen Absätzen. So tritt die Linke seit Jahren auf, der Stil wirkt wie ein Panzer gegen das Unbill dieser Welt. Dazu der gerade Rücken, der lange Hals, die sichere Stimmlage - Sahra Wagenknecht wirkte immer unverwundbar. Bis jetzt.

An diesem Abend ist sie Gast bei Anne Will, das Thema ist auf sie zugeschnitten: "Zwischen Höchstleistung und Überlastung - wann macht Arbeit krank?" Wagenknecht hat ihr Engagement in der Bewegung "Aufstehen" beendet und angekündigt, ihren Fraktionsvorsitz im Bundestag bei den Linken aufzugeben. Nun sitzt diese Statue von einer Frau am Sonntagabend im Crème-Sessel bei Anne Will und berichtet von ihrer Verletzlichkeit. Es menschelt im Polittalk.

"Ich hab' einfach gemerkt, dass ich gesundheitlich einen bestimmten Dauerstress nicht mehr durchhalte und dann meine Konsequenzen gezogen", sagt sie. Sie sei 2017 häufiger krank gewesen, nun ganze zwei Monate ausgefallen. Ohne genauer auf ihren Zustand einzugehen, erklärt Wagenknecht: "Man schiebt das immer weiter raus. Lange Zeit geht es irgendwie immer noch. Wahrscheinlich ist das der Adrenalinspiegel, der einem dabei hilft, dass man in Momenten wieder normal funktioniert. Aber es wird immer schwieriger."

Sie beschreibt ihr Abgleiten in einen chronischen Stresszustand, auch Burn-out genannt. Zwei Monate war sie zu Hause, krankgeschrieben. Und fasste den Entschluss: "So kann und möchte ich nicht weitermachen." So etwas möchte sie nicht noch einmal erleben.

Wagenknecht polarisiert mit ihren sehr linkspolitischen Ansichten

Ein Rückzug aus der Politik wegen Überlastung ist sehr ungewöhnlich. Vielleicht kommt es häufiger vor als man denkt - dann hört allerdings kaum davon. Sahra Wagenknecht hat sich entschlossen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Vielleicht auch deshalb, weil die internen Grabenkämpfe bei den Linken zuvor auch öffentlich waren, die Angriffe gegen sie inklusive. Doch sie erklärt, sie wolle nicht gegen ihre parteiinternen Kritiker nachtreten. Lieber weitet sie den Blick: "Ich würde mir wünschen, dass Politik anders funktioniert, mit einer stärkeren Gemeinsamkeit in den Parteien." Aber da sei die Linke kein Einzelfall.

Die ersten zehn Sendeminuten spricht nur Wagenknecht. Die Stimme ist bisweilen ungewöhnlich dünn, manchmal fast brüchig. Die 49-Jährige polarisiert mit ihren sehr linkspolitischen Ansichten wie kaum jemand im deutschen Politikbetrieb. Zwischen großer Zuneigung und großem Hass gibt es wenig, sie musste viel aushalten in den vergangenen Jahren. Zum Beispiel eine Tortenattacke auf dem eigenen Parteitag.

Und dennoch hätte wohl niemand daran gedacht, dass es ausgerechnet bei Sahra Wagenknecht zum Riss kommt - und sie diesen Riss auch noch Millionen TV-Zuschauern als Sonntagabend-Unterhaltung in die Wohnzimmer schickt. Es dürfte nicht verwundern, wenn das Outing ihre Sympathiewerte erheblich steigern wird. Sahra Wagenknecht macht eine Art Menschwerdung durch.

Und der Mensch Wagenknecht will nun abtreten von der Front. Auch wenn sie noch in der Sendung zurückrudert, den Rücken gerade macht und die Zustände in der Gesellschaft anprangert. Denn nicht alle hätten wie sie die Möglichkeit, einfach kürzer zu treten, wenn es nicht mehr geht. Da sei sie als betuchte Politikerin privilegiert. "Wir müssen darüber diskutieren: Was wollen wir eigentlich für eine Gesellschaft sein? Ist der Mensch für die Wirtschaft da oder die Wirtschaft für den Menschen?" Da ist Sahra Wagenknecht wieder in ihrem Element.

Mehr psychische Störungen

Daneben sitzt Thomas de Maizière, früherer Verteidigungs- und Innenminister von der CDU. Er erweist wie alle im Raum Sahra Wagenknecht seinen Respekt für deren Einblicke. Hat aber auch eine Durchhalte-Botschaft dabei: "Es gibt Situationen, da muss alles andere zurückstehen, es sei denn, es ist wirklich zu schlimm." De Maizière hatte während der Flüchtlingskrise im September 2015 eine schwere Bronchitis, 40 Grad Fieber, dennoch machte er erst einmal weiter.

Er habe sich aufgerappelt, "weil halt die Aufgabe im Vordergrund stand". Nicht selten werden solche Anekdoten später zur Heldentat verklärt. Der Mann hat standgehalten, halb krank, pflichtbewusst im Dienste des Landes. Als de Maizière sich dann in Spanien erholte, schrieb die Bild-Zeitung gleich einen bösen Kommentar (für den sie sich später entschuldigte).

Ist das nun das Holz, aus dem deutsche Arbeiter geschnitzt sein sollen? Bei Anne Will werden Zahlen vorgestellt: Die Krankheitstage wegen psychischer Störungen haben sich innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt. Die Zahl der Krankheitstage wegen Burn-out verdreifacht. Das liegt einerseits daran, dass die Diagnose häufiger gestellt wird, und das Thema aus dem Tabubereich geholt wurde. Andererseits steigt die Arbeitsbelastung in vielen Berufen, zum Beispiel in der Pflege.

Wer dachte, mit Sahra Wagenknecht zieht sich die einzige linkspolitische Persönlichkeit zurück, der irrt. In der Sendung sitzt bereits ein Nachfolger: Alexander Jorde, angehender Krankenpfleger. Im September 2017 brachte er Kanzlerin Angela Merkel in einer Live-Sendung arg in Verlegenheit, weil er sie für die Missstände in der Pflege kritisierte. Diesmal attackiert er CDU-Mann de Maizière und die ebenfalls anwesende FDP-Frau Katja Suding. Während die von einem überregulierten Arbeitsmarkt (de Maizière) und Entlastung durch Digitalisierung (Suding) sprechen, veranschaulicht Jorde die Probleme im Alltag.

Gewinne im Gesundheitssystem sind ein Fehlanreiz

"In der Pflege ist es möglich, zwölf Tage am Stück zu arbeiten und zwischen allen drei Schichttypen hin und her zu wechseln", erzählt er. In seinem Tarifvertrag sei es möglich, bis 21 Uhr zu arbeiten und am nächsten Morgen um sechs Uhr wieder zu beginnen. Man müsse sich dann noch umziehen, nach Hause fahren, viele haben Kinder, Familie. Einige Kollegen würden während einer Schicht bis zu zehn Kilometer gehen, dazu komme der psychische Stress durch die Verantwortung für Menschenleben. Es sei dann programmiert, dass fast jeder Dritte im Pflegebereich gefährdet sei, einen Burn-out zu erleiden.

Als Suding die Privatisierung von Krankenhäusern und Pflegeheimen verteidigt, kommt wieder Jorde mit Konkretem: Das Unternehmen Fresenius habe einmal eine spanische Klinikkette übernommen, dann habe der Vorsitzende von Fresenius gesagt: In Spanien liegen Patienten durchschnittlich vier Tage im Krankenhaus, in Deutschland sechs, man müsse effizienter werden und auch an die vier Tage rankommen.

Auswirkung: "Wir müssen viel mehr Dinge in viel kürzerer Zeit machen, damit der Patient früher das Krankenhaus verlässt. Die Arbeitsbelastung steigt um ein Vielfaches. Das ist einzig allein zurückzuführen auf die Privatisierung und den Kostendruck auf die Häuser", beklagt Jorde. Er macht den Unternehmen aber nicht einmal einen Vorwurf. Ein solches könnte nur bestehen, wenn es Gewinne macht. Das sei aber im Gesundheitssystem ein Fehlanreiz.

Jorde ist zuletzt in die SPD eingetreten. Ob der Politikbetrieb was für ihn wäre? Er schnauft tief durch. "Wenn es irgendwann so ist, dass es passt und sich eine Chance ergibt, dann würde ich vielleicht 'Ja' sagen." Er fürchte aber den Druck, die Anfragen von Bürgern und Medien, das viele Engagement in der Freizeit. Sahra Wagenknecht hätte vielleicht ein paar Tipps für ihn, damit umzugehen.

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