Russland:Gegenrede

Dekoder.org zeigt, dass es auch ohne Propaganda geht. Die ins Deutsche übersetzten Artikel russischer Journalisten kommen kommentiert daher.

Von Julian Hans

Seit im vergangenen Jahr klar wurde, dass die russische Führung nicht nur Militär und Diplomatie, sondern auch massive Desinformation einsetzt, um ihre Ziele in der Ukraine zu erreichen, wird im Westen über die richtige Antwort auf die Propaganda diskutiert. Dass in Russland jenseits der staatlich gelenkten Fernsehkanäle auch hervorragende Journalisten arbeiten, ist dabei fast in Vergessenheit geraten. Eine neue Website macht ihre Arbeit nun auch für deutsche Leser zugänglich.

Unter der Adresse dekoder.org erscheinen seit dieser Woche Artikel unabhängiger Zeitungen und Websites aus Russland in deutscher Übersetzung. Zwar informieren sich Umfragen zufolge 90 Prozent der Menschen in Russland ausschließlich per Staatsfernsehen über das Weltgeschehen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit führt die Organisation Reporter ohne Grenzen die Russische Föderation derzeit auf Platz 152 von 180. Doch noch immer trotzen mutige Reporter und unabhängige Redaktionen der wachsenden Repression. Ihre Medien heißen slon.ru, colta.ru, ej.ru oder Nowaja Gaseta.

Während staatliche Propaganda-Sender wie RT (Russia Today) oder Sputnik News, die Moskau für das Ausland produzieren lässt, den Hauptteil ihrer Programme der Verdorbenheit des Westens und den Vergehen der USA widmen, beschäftigen sich die von Dekoder ausgewählten Medien mit Russland selbst. Wer sich künftig als Russland-Versteher bezeichnen möchte, ist hier direkt an der Quelle.

Die spendenfinanzierte Seite ist ein Projekt junger Osteuropa-Experten, welche die Artikel mit Anmerkungen ergänzen und Begriffe erklären, um sie auch für Leser verständlich zu machen, die sich noch nicht in allen Einzelheiten des russischen Universums auskennen. Das Projekt solle auf diese Weise eine Verbindung herstellen zwischen dem Diskurs in Russland und der akademischen Welt, die sich im Westen mit der Region beschäftigt, erklärt der Herausgeber Martin Krohs.

Dekoder sei nicht als Gegenpropaganda angelegt, sagt er. Eher soll die Seite Stimmen hörbar machen, die bisher in Deutschland nur Eingeweihten mit Russischkenntnissen bekannt sind. "Wir machen keine Meinung, höchstens durch die Auswahl der Texte", sagt Krohs. "Wir wollen den Diskurs abbilden, wie er ist." Krohs hat selbst zehn Jahre in Moskau gelebt, für das Goethe-Institut gearbeitet und einen Buchladen für europäische Literatur eröffnet. Die Idee zu Dekoder kam ihm Anfang des Jahres, als er nach einem Urteil gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny eine Diskussionsrunde im liberalen Sender Doschd sah: "Solche Debatten müsste man bei uns auch sehen, fand ich."

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