Exil-Journalismus:Lektionen aus Deutschland

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"Journalismus ist kein Verbrechen": Schon im August 2021 kam es in Moskau zu Protesten nach Verhaftungen mehrerer Journalisten. (Foto: Denis Kaminev/AP)

Viele geflohene Journalisten aus Russland und Belarus möchten von Berlin aus arbeiten. Doch die Bundesrepublik macht es ihnen schwer.

Von Katja Gloger und Georg Mascolo

Viel ist geschrieben worden über das deutsche Zaudern, seit Wladimir Putin im Februar die Ukraine überfallen hat. Meist geht es dabei um Waffenlieferungen, und nicht jeder schrille Befund ist von Fakten gedeckt. In einem anderen Bereich aber ist der Befund eindeutiger: Es geht um die Frage, ob die Bundesregierung genug unternimmt, um aus Russland und Belarus geflohenen Journalistinnen und Journalisten einen sicheren Zufluchtsort anzubieten. Einen Ort, eine neue Heimat vielleicht auch, an dem sie ihre so unbedingt notwendige Arbeit gefahrlos fortsetzen können. Denn für die Menschen in Russland und Belarus ist ihre Berichterstattung derzeit die einzige Alternative zu den Lügen und dem Hass, die vor allem russische Staatssender an jedem neuen Tag verbreiten.

Leider lässt sich die Frage nicht zufriedenstellend beantworten. Mit diesem Eindruck jedenfalls verlässt man jene beiden Städte im Baltikum, die sich in den vergangenen Monaten zu Hotspots russischer und belarussischer Exilmedien entwickelt haben: das lettische Riga und das litauische Vilnius. Die Geschichten, die man hier hört, ähneln sich auf verblüffende wie deprimierende Weise. Deutschland, vor allem Berlin, bleibt für viele ein Wunschort, ganz nah eigentlich und doch so weit entfernt. Es sei schwierig mit diesem Deutschland, kompliziert und zäh, die Bürokratie überaus langwierig, ein geregeltes Aufnahmeverfahren nicht erkennbar.

Offenbar hat sich doch noch nicht genug verändert, seit der Moskauer Journalist Michail Sygar im Mai auf Spiegel Online feststellte: "Die großen russischen Oppositionsmedien haben erkannt, dass Deutschland es nicht eilig hat, russischen Einwanderern zu helfen." Obwohl Kulturstaatsministerin Claudia Roth den, wie sie sie so treffend nennt, "Fachkräften für die Demokratie" dies doch versprochen hatte. Und alle anderen Zuständigen in der Bundesregierung auch.

Es wäre ja mehr als eine humanitäre Geste: Berlin als europäisches Zentrum unabhängiger russischsprachiger Medien, mit kleinen Leuchttürmen eines anderen, demokratischen Russland. Es wäre ein politisches Zeichen gegen Putin und den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko.

Sie sind die Chronistinnen der Ereignisse, zählen jeden neuen politischen Gefangenen

Es ist auch nicht so, dass gar nichts geschieht. Größere Summen Fördergelder der Bundesregierung fließen für die Unterstützung von Exilmedien und Michail Sygar etwa lebt in Berlin in Sicherheit. Mittlerweile bemühe man sich sehr, fügt Sygar an. Die meisten aber, Hunderte russischer und belarussischer Journalistinnen und Journalisten, befinden sich in Lettland und Litauen - oder harren in Kasachstan aus, in Georgien oder Armenien. Zum Teil mussten sie binnen weniger Tage ihr Land verlassen. Manche retteten dabei nur das Notwendigste, meist Handy und Computer.

Die Regierungen der beiden baltischen EU-Staaten hatten zu Beginn des Krieges rasch und entschieden reagiert, Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten geschaffen. In Vilnius etwa arbeitet nun die Redaktion von Zerkalo, Nachfolgerin der belarussischen Onlineplattform tut.by, der einst größten des Landes. Chefredakteurin Marina Solotowa und 14 ihrer Kolleginnen wurden im Mai 2021 verhaftet, tut.by verboten. Wer fliehen konnte, floh. Zunächst nach Kiew - und nach Kriegsbeginn erneut. Heute arbeiten sie in einem der hippen Co-Working-Spaces im Stadtzentrum, ein gutes Dutzend, die meisten von ihnen Frauen. Voller Sorge um Familien und Freunde in Belarus und chronisch überarbeitet schreiben sie Artikel um Artikel. Veröffentlichen auf Telegram, Instagram und Tiktok, sind erreichbar per App mit eingebautem VPN zur Umgehung der Blockade durch die belarussischen Behörden. Sie sind die Chronistinnen der laufenden Ereignisse, zählen jeden neuen politischen Gefangenen, am 7. Oktober waren es 1348. Darunter der diesjährige Träger des Friedensnobelpreises Ales Bjaljazki, aber auch ihre Chefredakteurin. Marina Solotowa drohen 18 Jahre Straflager.

Mit Putins Krieg begann auch in Russland der journalistische Exodus. Schon seit Jahren sind unabhängige Medien Repressionen ausgesetzt. Seit der erneuten Verschärfung der Mediengesetze Anfang März ist es de facto verboten, den Krieg Krieg zu nennen, 15 Jahre Straflager drohen. Viele sahen nur noch den Weg ins Exil. Visa für Lettland wurden teils innerhalb von nur zwei Tagen erteilt, dabei half, dass unabhängige Medien wie Meduza oder das Onlineportal Spektr.Press schon seit Jahren in Riga ansässig sind und sich deren Chefredakteurinnen für Kolleginnen und Kollegen verbürgten. Spektr-Chefredakteur Anton Lysenkow konnte die Zahl seiner Mitarbeitenden seit dem 24. Februar verdreifachen. "So wurden buchstäblich Leben gerettet." Unabhängige Journalisten würden dringend gebraucht, sagt er, "und wir müssen ihnen eine Perspektive bieten".

Zum Teil kamen ganze Redaktionen nach Riga. Die BBC schickte Teile ihrer russischsprachigen Redaktion zeitweise nach Lettland. Nach Schließung des Moskauer Studios sowie Entzug der Presseakkreditierungen verlegte die Deutsche Welle ihre dortige Berichterstattung nach Riga. Der Moskauer Sender Doschd gründete einen Hub mit gut 50 Mitarbeitern. Und es kamen auch Lokaljournalisten, die gegen die alltägliche Korruption und den Machtmissbrauch anschrieben, so wie Denis Kamaljagin und Pawel Dmitrijew aus dem nordrussischen Pskow. Ihr Blatt Pskower Gouvernement gab es schon lange nur noch online. Zu den üblichen Schikanen gehörte, dass die Post sich weigerte, die Zeitung zuzustellen; Kioske legten sie nicht mehr aus. Im März dann stürmten maskierte Männer vom Geheimdienst die Redaktion und zwangen die beiden Journalisten zu Boden. Einer war so gnädig, sie zu warnen: Sie sollten nach ihren Reisepässen schauen. Wenig später verließen sie das Land. Über Journalisten wie sie sagt Putin: "Sie haben schon immer gegen Russland gearbeitet."

In wenigen Wochen sollen 60 000 Exemplare der "Nowaja" in Deutschland gedruckt werden

In Riga arbeiten auch rund 30 Journalistinnen und Journalisten für die Nowaja Gaseta. Europa, Nachfolgerin der berühmten Nowaja Gaseta. Deren Chefredakteur, der Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratow harrt noch in Moskau aus, obwohl die Nowaja ihr Erscheinen in Russland schon Ende März ausgesetzt hatte: Sie konnte und wollte sich den Zensurgesetzen nicht beugen. Umso wichtiger ist die Arbeit aus Riga, sie sitzen hier zur Untermiete bei einem Medienunternehmen, das eher im Lifestyle-Bereich sein Geld verdient. Eine Wand des Konferenzraums ist rot gestrichen, "Beauty" steht in riesigen Lettern an der Wand. Redaktionsleiter Kirill Martynow ist manchmal hier, ansonsten überall in Europa unterwegs, um Unterstützung einzusammeln: Bislang wurden sie von Stiftungen wie dem deutschen " JX-Fonds für Exiljournalismus" finanziell unterstützt. Sie konnten auch auf Crowdfunding vor allem aus Russland setzen, aber das wird zunehmend schwerer. Zwar steigen seit der Teilmobilmachung die Nutzerzahlen, groß ist der Bedarf an Informationen, Fakten und Hintergründen. Die Weltnachricht über das wahre Ausmaß der Teilmobilmachung - bis zu eine Million Männer könnten eingezogen werden - kam etwa von der Nowaja Europa.

Doch sie brauchen dauerhaft Auflage und Anzeigen, ein "Businessmodell". Auch deswegen scheint Berlin für Martynow eine wichtige Alternative zu sein. In einigen Wochen sollen zum ersten Mal in Deutschland 60 000 Exemplare gedruckt werden. Vielleicht auch eine Lektüre für die vielen russischsprachigen Menschen, Millionen allein in Deutschland. Nicht wenige von ihnen stehen Studien zufolge westlichen Medien misstrauisch gegenüber.

Berlin also, nach Berlin. Die Stadt sei ein bisschen wie Moskau, sagen sie, zwar teurer als das Baltikum, aber eben auch die Hauptstadt des wichtigsten Landes der EU. Nicht so beschaulich wie Riga oder Vilnius, ein auch politisch geeigneter Platz. Für die Nowaja.Europe arbeiten zwei Kollegen dort, fünf weitere sollen folgen. Wenn es denn klappt. "Im Prinzip steht die Tür offen", meint Martynow, "aber dahinter beginnt das deutsche Labyrinth."

Andere arbeiten diskret an ihrem "Plan B", wollen die Voraussetzungen für einen Umzug schaffen. Eine Redaktion hat einen Berliner Wohnungsbaukonzern angeschrieben und um Unterstützung bei der Vermittlung von Wohnungen gebeten. Und Rechtsanwälte zur Unterstützung für die notwendige Firmengründung beauftragt. "Wir brauchen keine Wohltätigkeit", sagt die Redaktionsmanagerin von Zerkalo. "Wir brauchen eine Steuernummer." Die komplizierten Prozeduren nennen sie "Lektionen aus Deutschland".

"Ihr könnt ohne bürokratische Hürden nach Deutschland kommen", hat Baerbock gesagt

Und es wächst die Sorge, wie lange man im Baltikum als Russe noch willkommen bleibt. Die Menschen hier litten Jahrzehnte unter sowjetischer Okkupation, diese Erinnerung ist lebendig. Je länger der Krieg dauert, umso schwieriger wird die Lage - die unerträglichen Bilder der Kriegsverbrechen in Butscha trugen ihren Teil bei, auch die Teilmobilmachung. Seither werden so gut wie keine Visa mehr an russische Staatsbürger erteilt; die Frage ist, ob vorhandene Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen entfristet werden.

Die Bundesregierung jedenfalls hatte großzügige und unkomplizierte Hilfe zugesagt. "Wir werden insbesondere russischen Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit geben, von Deutschland aus frei und unabhängig zu berichten", verkündete Innenministerin Nancy Faeser etwa im Mai. So klang auch Außenministerin Annalena Baerbock, die im Bundestag versprach: "Ihr könnt ohne bürokratische Hürden nach Deutschland kommen."

Dass dies leider mit der Wirklichkeit nicht immer viel zu tun hat, machte im September "Reporter ohne Grenzen" deutlich. Eine Liste von 54 Fällen für humanitäre Visa war entgegen allen Zusagen nicht abgearbeitet. Diese langen Bearbeitungszeiten seien "angesichts der prekären Situation" der zum Teil noch in Russland ausharrenden Journalisten "höchst problematisch", kritisierte die Organisation. Erst öffentlicher Druck half - die Aufenthaltszusagen wurden erteilt, auch für Familienmitglieder.

Das ist ein Fortschritt und zugleich ein Alarmsignal. Denn für die eingetretenen Verzögerungen machen sich die beteiligten Ministerien und Behörden wechselseitig verantwortlich. Es entsteht der Eindruck, dass politische Versprechen und behördliche Praxis auseinanderklaffen - wieder einmal, wie im Fall der afghanischen Ortskräfte. Und sollte die moralische Lektion aus diesem Versagen schon vergessen sein: Unabhängige russische Medien zu unterstützen, Journalistinnen und Journalisten willkommen zu heißen, ist in der nun wohl lange dauernden Auseinandersetzung mit Russland von herausragender Bedeutung. Man könnte es auch so sagen: Es ist eine demokratische Pflicht.

Die langjährige Moskau-Korrespondentin Katja Gloger ist Vorstandssprecherin von Reporter ohne Grenzen (RSF) Deutschland. RSF ist einer der Mitgründer des JX-Fonds für Journalismus im Exil.

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