Ricky Gervais' "Supernature" auf Netflix:Stunde des Narren

Ricky Gervais' "Supernature" auf Netflix: Schmerzfeier Humor: Ricky Gervais.

Schmerzfeier Humor: Ricky Gervais.

(Foto: Netflix)

Wer in der Gegenwart wirklich lustig sein will, darf auf Empfindlichkeiten keine Rücksicht nehmen. Behauptet Ricky Gervais - und praktiziert es auch in seinem Stand-up-Special "Supernature" auf Netflix.

Von Tobias Kniebe

Hier gleich die wichtigste Nachricht vorweg: Ricky Gervais kann immer noch schauen wie ein Hundewelpe, der gerade den Teppich zerfetzt hat. Ein bisschen schuldbewusst, ein bisschen triumphal ob seines Wagemuts, ein bisschen Strafe erwartend und dann doch sehr sicher, dass er auch diesmal davonkommen wird.

Die meisten Menschen kennen diesen Blick von den Golden Globes aus Hollywood, wo Gervais viermal der Gastgeber war und die Stars im Saal zerfetzt hat wie keiner vor oder nach ihm. Hinter jeder unverschämten Pointe aber kam dieser Blick, und sagen wir mal so: Seine Fresse blieb all die Jahre, anders als etwa die von Chris Rock bei den Oscars, unpoliert.

Vielleicht ist das ja wirklich Aufgabe des Komikers in der Nachfolge des Hofnarren: Den gerade regierenden König (aka diskursiven Machthaber) so lange zu reizen, bis er zum Schwert greift, in letzter Sekunde aber eine Wendung einzubauen, die den eigenen Kopf eben doch nicht rollen lässt. Die Intensität des Gelächters im Publikum speist sich aus dieser Nähe zur Gefahr, zum gerade in diesem Königreich absolut Unaussprechlichen und Unsagbaren. Die Kunst liegt darin, es irgendwie dann doch zu sagen, aber irgendwie auch nicht. Balancieren auf einer sehr feinen Linie, Absturz jederzeit möglich.

Von dieser seiner Kunst und seiner Nähe zur Gefahr hat Gervais nun länger nichts vorgeführt. Seine Netflix-Serie Afterlife enthielt zwar jede Menge Welpenblicke in drei Staffeln, aber gleichzeitig die Zusicherung, dass hier ein wirklich guter Mensch (gespielt von Ricky Gervais) nur deshalb so biestig ist, weil er ganz furchtbar um seine tote Frau trauert. Gut und schön. Das seltsame Bedürfnis, einem untersetzten, knubbelnasigen älteren Engländer dabei zuzusehen, wie er sich für immer um Kopf und Kragen redet und danach wie ein Welpe schaut, konnte diese Serie nicht ganz erfüllen.

Mannomann, werden hier die Könige bis aufs Blut gereizt!

Dafür gibt es jetzt auf Netflix das Stand-up-Programm Supernature, aufgezeichnet auf Gervais' letzter Tour. Und Mannomann, ist da die Gefahr mit Händen zu greifen, werden da alle nur denkbaren Könige bis aufs Blut gereizt! Man hört von Komikern ja oft den Satz, dass sie es derzeit immer schwerer haben, weil immer mehr Menschen immer schneller tödlich beleidigt sind. Gervais' Programm ist nicht nur saulustig und oft vollkommen unter der Gürtellinie, sondern auch eine Art Analyse dieses Zustands, eine diskursive Reflexion über Humor und eine Art Kampfansage: Wer in dieser unserer Gegenwart weiterhin wirklich lustig sein will, darf (leider, leider; hier ein Welpenblick) auf keinerlei Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen.

Allein diese letzte Behauptung steht so fundamental quer zum medial vermittelten Zeitgeist, der ja doch der mächtigste König der Gegenwart ist, dass einem kurz der Atem stockt - und in den Reaktionen auf die Show sind die ersten Schwerter auch längst gezückt. Besonders hört man dabei von den Trans-Aktivisten, aber die sind vielleicht einfach nur fix, denn gemessen an der Liste der Provokationen müssten weitere Gruppierungen folgen: traditionelle Feministinnen, Gläubige jeglicher Konfession, Chinesen, Wächter gegen Homophobie, Interessenvertreter von Kleinwüchsigen und Menschen mit Behinderung, Boris-Johnson-Freunde, Menschen in Afrika, Kinder mit tödlichen Krankheiten, Menschen mit Übergewicht... und so fort.

Anders gesagt, das manifeste Programm der Nichtrücksichtnahme wird einfach gnadenlos durchgezogen, und wer der Meinung ist, dass Komik auch Grenzen kennen muss, sollte sich diese Show besser nicht antun. Wenn es allerdings nur darum ginge, Tabus auszumachen und dann zu brechen, in einem stumpfsinnig-mechanischen Reigen der Provokationen, müsste kein Mensch der Sache Beachtung schenken - dann wären die größten Deppen halt unter sich und würden sich beömmeln, und die Welt würde sich ungerührt weiterdrehen. Es ist bei Ricky Gervais nur eben deutlich komplexer.

Als Beispiel eine Passage vom Anfang der Show, die wegen Trans-Feindlichkeit bereits zitiert und kritisiert wird. Gervais macht da eine Unterscheidung auf zwischen "altertümlichen Frauen, denen mit Gebärmutter, diesen verdammten Dinosauriern". Und den "neuen Frauen, die wir immer öfter sehen, denen mit Bärten und Schwänzen". Die seien toll. "Ich liebe sie!" Man kann einem Komiker natürlich alle möglichen geheimen Motivationen unterstellen, aber man muss doch festhalten: Hier hat er gerade mal ostentativ eine Position eingenommen, in der er Trans-Frauen liebt. Alle anderen Frauen dagegen, ähem...

Und dieses Spiel treibt er dann weiter mit der Toiletten-Kontroverse, die inzwischen wohl für immer mit dem Namen J.K. Rowling verbunden ist, und die er in ihrer Peinlichkeit ja nicht erfunden hat. Dabei nimmt er die Sprachposition eines Trans-Aktivisten ein. Die Ängste "traditioneller Frauen", dass "Frauen mit Schwänzen" ihre Toiletten benutzen könnten, und die Angst vor Vergewaltigungen, die in diesem Zusammenhang geäußert wurden, persifliert er und weist sie mit aktivistischer Vehemenz zurück, indem er Rowling und Verbündete (allerdings ohne Namensnennung) sogar mit dem Kampfbegriff "Terf" (Trans-ausschließender radikaler Feminismus) schmäht.

An der Oberfläche der Dinge haben Trans-Frauen in dieser Passage einen neuen Alliierten gewonnen, Anti-Trans-Feministinnen aber einen Feind. Um daraus Trans-Feindlichkeit abzuleiten, muss man sie komplett gegen ihren Wortlaut lesen. Und genau das ist vielleicht das Interessante an Ricky Gervais' Provokationen. Seine Witze haben gern Fallstricke und doppelte Böden, sie sind gelegentlich komplex konstruiert und wechseln auch mal mitten im Satz die Stoßrichtung, und es ist oft schlicht unmöglich, ihn auf eine Position festzunageln, die er jenseits seiner Pointen vertritt.

Ist ein Witz ein Fenster in die Seele des Komikers? Von wegen

Und wie alle Aspekte seiner Arbeit thematisiert er das in der Show selbst, die deshalb eben gerade kein Fest für Dumpfbacken ist. "Ist ein Witz ein Fenster, durch das man in die wahre Seele eines Komödianten blickt?", fragt er und antwortet: "Nun eben genau nicht!" An anderer Stelle fühlt er sich bemüßigt, das Wesen von Ironie und uneigentlichem Sprechen zu erklären, um dann gleich anzufügen, was er "eigentlich" denkt. Was dann aber nur der Anlauf für die nächste Pointe ist, noch augenzwinkernder und uneigentlicher als die letzte...

Es würde Tage und Wochen dauern, all die Positionswechsel und Hintersinnigkeiten dieser nur knapp einstündigen Show aufzudröseln, und ihren gesammelten Wahnsinn. Mal zeigt Gervais ein überraschend süßes (und noch dazu reales) Babyfoto von Adolf Hitler und konfrontiert all die Zeitmaschinen-Fantasten, die Hitler so gern schon als Baby umbringen würden, mit den realen Anforderungen dieser Tat. Dann "bekennt" er, mit diesem Babyfoto einen umgebauten Weinkeller in seiner Villa ausgekleidet zu haben, zum Zweck der Selbstbefriedigung. Und er entwickelt eine Art "Methadon-Programm", um potenzielle Kinderschänder von ihrer "Sucht" zu befreien, dessen Pointe man hier nicht einmal andeuten mag...

Über all dem hängt das Schwert des Königs, jederzeit zum Köpfen bereit. Geht das Schandmaul diesmal endgültig zu weit? Je mehr diese Stunde des Narren aber voranschreitet, desto mehr hat man das Gefühl, dass Ricky Gervais auch diesmal davonkommen wird. Und das hat am Ende nicht nur mit seiner Schlauheit zu tun - Schlauheit hat ja im Zweifelsfall noch niemanden gerettet. Obwohl es keinerlei belastbare Indizien dafür gibt, meint man zu spüren, dass der Mann dort auf der Bühne - im tiefen Grund seines Welpenblicks, im Fundament seiner Seele - kein schlechter Mensch ist.

Seine "Lebensgefährtin Jane", die in manchen seiner Geschichten vorkommt, gibt es zum Beispiel wirklich, und seine Behauptung, dass sie seit vierzig Jahren mit ihm zusammen sei, lässt sich ebenfalls verifizieren. Die Frau ist Bestseller-Autorin, würde sie freiwillig bei einem absoluten Monster bleiben? Ein weiteres Indiz sind die "realen Geschichten", die er aus seiner Jugend in Arbeiterklassen-Armut erzählt, und die sich (das nur so ein Gefühl) tatsächlich real anfühlen. Die allerbösesten Witze darin macht nicht etwa Jung-Ricky selbst, sondern machen seine Mutter und sein Bruder. Und da wird man fast nostalgisch nach einer Zeit, in der es derart garstigen Humor überall noch gab - als Ausdruck von Zärtlichkeit. Aberwitziger Verdacht geradezu: Will der Mann uns alle am Ende mit seinen Pointen... einfach nur umarmen?

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