Rezension:Mehr als eine Liebe

Kann man zwei Menschen gleichzeitig lieben? "The Pier", die neue Serie der Showrunner von "Haus des Geldes", erzählt die Geschichte eines Doppellebens.

Von Claudia Tieschky

Wer Álex Pina ist? Sagen wir so: Als voriges Jahr überall dieses alte italienische Partisanenlied lief, sogar zu Bauch-Beine-Po im Fitness-Studio - er war schuld. "Bella Ciao" wurde wiederentdeckt, weil es in der Serie Casa del Papel vorkommt, Haus des Geldes auf Deutsch; ursprünglich im spanischen Fernsehen, inzwischen in der dritten Staffel bei Netflix und weltberühmt.

In diesem wahnwitzigen Plot schickte Pina zusammen mit seiner Co-Autorin und Frau Esther Martínez Lobato eine Truppe sehr eigenwilliger Gangster in Spaniens Banknotendruckerei, und während nach den Regeln des Genres der Raubzug selber üblicherweise schnellschnell gehen muss, dehnt sich hier die Zeit im Gebäude über mehr als eine Staffel, man sieht, was drinnen vorgeht, man sieht, was die Polizei draußen macht, und vor allem sieht man "El Profesor", einen zurückhaltenden Mann mit dem Auftreten eines höflichen Lehrers, der den Verlauf des Ganzen präzise von außerhalb steuert.

Insofern ist es ein schlimmer Schocker, wenn zu Beginn der neuen Serie der beiden Showrunner der Professor tot im Sarg liegt. Schnell stellt man erleichtert fest, es ist gar nicht der Professor, es ist nur derselbe Schauspieler, Álvaro Morte, der in The Pier einen Mann namens Óscar spielt. The Pier handelt von Liebe, spielt über weite Teile in dem Naturpark Albufera, und wie unbefangen sich die Serie gelegentlich beim sentimentalen und auch schrillen Repertoire von TV-Soaps bedient, das merkt man schon in einer der ersten Szenen. Da nimmt die schöne junge Witwe Alejandra (Verónica Sánchez) unauffällig die Hand von Óscar, ihrem aufgebahrten Ehemann, und entsperrt mit dem Fingerabdruck das fremde Handy, das er bei sich hatte. Die Neugier war einen Moment lang stärker als die Trauer. Kann passieren.

Aber von nun an fragt sich Alejandra, wie es passieren konnte, dass Óscar acht Jahre lang ein Doppelleben führte, von dem sie nichts wusste, dass er eine andere Frau hatte und ein Kind mit ihr? Kann man zwei Menschen gleichzeitig lieben? Vielleicht sogar die Rivalin? Das sind die Fragen, um die es in The Pier so im Kern geht. Denn als Alejandra die andere Frau zur Rede stellen will, findet sie in einem einsamen Haus zwischen den Reisfeldern von Albufera eine so verzweifelt Trauernde, dass sie sich ihr nicht zu erkennen gibt. Stattdessen wählt sie eine spezielle Art der Bewältigung. Sie mietet sich bei Verónica als "Martina" ein und versucht herauszufinden, wer ihr Mann wirklich war, der ihr auf einmal so fremd vorkommt, und ob er sich wirklich im Auto selbst das Leben nahm, wie die Polizei sagt.

the Pier auf Joyn

Das Naturkind Verónica (Irene Arcos) bringt Óscar (Alvaro Morte) eine ganz neue Lebensweise bei.

(Foto: Maria Heras)

Zu Verónica (Irene Arcos) fällt einem leider gleich das Wort "sinnlich" ein, sie ist selten vollständig bekleidet, aber herzensgut, und schläft gern mit verschiedenen Leuten. Während die Architektin Alejandra eher kopfgesteuert wirkt und Hochhäuser baut. Kein Wunder, dass Óscar, dessen Leben in Albufera in Rückblenden mit vielen Sexszenen erzählt wird, dem Naturkind Verónica verfallen ist, könnte man meinen. Aber so simpel, wie die Konstellation erst mal hingestellt ist, bleibt es nicht.

The Pier wird wunderbarer Weise auch bevölkert von einer Reihe ziemlich irrer Nebenpersonen, die um einiges vielschichtiger sind, als man erst meint. Alejandras Freundin Katia zum Beispiel, die so lange die Geliebte des Chefs war, dass sie starr vor Bindungsangst die Sache in dem Moment beendet, in dem er sich von seiner Frau trennt. Am wichtigsten aber ist Alejandras Mutter Blanca: Eine pompöse Romanschriftstellerin, die in der Spurensuche ihrer Tochter den perfekten Plot für das nächste Buch wittert. Wahrscheinlich vor lauter Spaß an ihrem eigenen Stoff haben Esther Martínez Lobato und Álex Pina diese Weißwein süffelnde, launische Blanca (Celilia Roth) zu einer Art Erzählerin der Geschichte gemacht, ach was - zu einer Figur wie aus dem Götterhimmel, die zusammen mit ihrer jungen Helferin Ada vielleicht im Moment des Erzählens über das Schicksal von allen entscheidet: Óscar soll nicht einfach ein Mann sein, der seine Frau betrügt, beschließen sie. Er soll beide vergöttern. Wie ein liebestoller Narr soll er sein.

Das alles ist mal oberflächlich und dann wieder ein herzzerreißendes Abschiednehmen vom toten Ehemann, es ist ein Thriller und ein psychologisches Drama, es ist manchmal fast schwülstig und im nächsten Moment schwer komisch. Als der Liebesnarr Óscar lernt, dass Veronica jedes Besitzdenken ablehnt und deshalb weiter mit ihrem Jugendfreund Vincent schlafen möchte, was zu einer mit Musik unterlegten erotischen Szene zu dritt führt, stehen die beiden Männer am nächsten Morgen nebeneinander und fremdeln. Und dann sagt Vincent: Warst du schon mal auf dem Fluss um Aale zu angeln? Und dann reden sie halt über Aale.

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