Süddeutsche Zeitung

Rezension:Liebe zum Dschungel

Die Journalistin Anja Rützel hat "Big Brother", "Frauentausch", "Bachelor", "Bauer sucht Frau" und andere Vertreter des Trashfernsehens studiert. Ihr Buch zu dem Thema erscheint nun in der überaus charmanten Reihe "100 Seiten" aus dem Reclam-Verlag.

Von Kathrin Hollmer

Der Fernseh-Bauernkalender, den Anja Rützel in ihrem Buch Trash-TV. 100 Seiten aufstellt, bietet klare Orientierung in den Jahreszeiten. Er sagt fürs Frühjahr den Bachelor voraus, im Mai zeigen sich die neuen frauensuchenden Bauern und im September die Promis im Big Brother-Haus. Mit dem Helene-Fischer-Weihnachtskonzert geht das Jahr zu Ende, bevor das neue mit der Dschungelcamp-Saison startet. Seit 2013 ist Letztere eigentlich die Anja-Rützel-Saison. Seitdem schreibt sie für Spiegel Online Recaps über den "Dschungel", wie die RTL-Survival-Show für maximal Semi-Prominente, Ich bin ein Star - Holt mich hier raus im Volksmund heißt.

Nun widmet die Journalistin und Mitbegründerin von Business Punk dieser medialen Parallelwelt ein ganzes Buch für die überaus charmante Reclam-Reihe 100 Seiten. In dem Programm des Verlags, den viele noch aus dem Lateinunterricht kennen, erschien auch schon ein Band zu den Gilmore Girls oder über Twin Peaks.

Die neun Kapitel über Trash-TV sind in Rützels gewohnt rotzigem Ton gehalten, mit starken Bildern und Vergleichen. Sie diskutiert das Wort "Unterschichtenfernsehen", das sich 2005 etabliert hat, als Harald Schmidt seinen ehemaligen Arbeitgeber so bezeichnete, den Privatsender Sat 1, und geht zurück bis zu den Anfängen von Reality-Fernsehen im Jahr 1948, als mit Candid Camera, das US-Vorbild der Versteckten Kamera startete.

Ihrem Lieblingssujet, dem Dschungelcamp, widmet Rützel natürlich mehr als ein ganzes Kapitel. "Das Dschungelcamp ist zweifellos das saftige Filetstück in der stellenweise durchaus etwas angegammelten Trash-Fleischtheke", schreibt sie. Nicht nur, weil einer Zuschaueranalyse von 2015 zufolge fast jeder dritte Zuschauer Abitur und jeder vierte einen Uni-Abschluss hat, sondern vor allem deshalb, weil die Sendung zwei Wochen lang eine Auszeit verspreche und in unserer überkomplexen Welt an die Banalität des Daseins erinnere.

Rützel seziert berühmte Momente des Trash-Genres und amüsiert sich über die Ideen der vergangenen Fernsehmesse MIPTV (Marché International des Programmes de Télévision) in Cannes. Da gab es unter anderem Perlen des schlechten Geschmacks wie die japanische Sendung Resurrection Makeover, für die Schauspieler wie Verstorbene geschminkt werden, um dann vor laufender Kamera Hinterbliebene zu besuchen. Wenige Seiten nach einer Typologie der inzwischen etablierten Rollen in Reality-Shows ("Die Busenlüfterin", "Das Sanostolkind") zitiert Rützel den römischen Dichter Lukrez. Trash-TV garniert mit Altphilologie. Ein bemerkenswerter Spagat.

Besonders schön sind die Zusatz-Features im Buch: etwa die "Erdbeerkäse"-Monologe einer Frauentausch-Kandidatin - eines der bekanntesten viralen Videos aus dem Trash-Genre ("Bio ist für mich Abfall!"). Oder die Floskeln von Trash-TV-Kritikern ("Und für so was zahlen wir Gebühren!"). Insgesamt bringt Rützel in ihrem Buch so viele Formate als Beispiele, dass einem schwindlig werden kann. Kennen muss man die nicht, um das Buch zu lesen und lustig zu finden. Am Ende ist Rützels Buch, obwohl es die angemessene Kritik enthält, eine Liebeserklärung ans Trash-Fernsehen geworden.

"Es ist Mist", schreibt Rützel in der Einleitung über ihr Fachgebiet, "aber ich mag's."

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Quelle:
SZ vom 17.03.2017
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