Exiljournalismus:Berechtigt im Einzelfall

Exiljournalismus: Polizisten zerren einen Mann davon, der in Moskau auf einer Demo gegen den Krieg in der Ukraine protestiert hat. Die kritischen Medien im Land sind ausgeschaltet oder ins Exil gegangen.

Polizisten zerren einen Mann davon, der in Moskau auf einer Demo gegen den Krieg in der Ukraine protestiert hat. Die kritischen Medien im Land sind ausgeschaltet oder ins Exil gegangen.

(Foto: AFP)

Hunderte russische Journalisten fliehen vor Putins Kriegsregime, ganze Exilredaktionen entstehen. Helfen sollen ein Fonds und Visa-Erleichterungen. Was nicht hilft: die deutsche Bürokratie.

Von Joshua Beer

Zwei Tage nachdem die russische Armee in die Ukraine eingefallen ist, drücken Spezialpolizisten Matvei Golovanov in ihr Auto. Sie hätten ihn "gefangen", erzählt er in brüchigem Englisch. Dabei habe er - so berichtet der 23-jährige Russe aus Jekaterinburg im Videocall - nichts weiter getan, als auf einer Antikriegsdemo zu filmen. Das ist sein Job: Golovanov arbeitet für RusNews, ein regimekritisches Medium, das vor allem auf Telegram und Youtube sendet; dort hat es mehr als 170 000 Abonnenten. Inzwischen sitzt der Journalist in einem Hotelzimmer in Istanbul. Ihm ist die Flucht gelungen, doch Golovanov, Dreitagebart und lange schwarze Haare, lässt trotzdem den Kopf hängen. Die Stimme versagt ihm fast, wenn er zurückdenkt. Nach der Festnahme habe ihn ein Schnellgericht zu 28 Tage Gefängnis verurteilt. "Ich bin kein harter Typ, nicht so wie Nawalny", sagt er und meint den inhaftierten russischen Oppositionsführer. "Es war wirklich eine harte Zeit." Mit gleißendem Licht sei er dort wach gehalten worden, tagsüber spielte ein Radio "schreckliche Musik und Propaganda" in voller Lautstärke. Als er rauskam, vergrub er sich daheim - aus Angst. Es dauerte noch zwei Wochen, dann riskierte er die Ausreise.

Matvei Golovanov ist einer von Hunderten Journalistinnen und Journalisten, die Russland verlassen haben, weil ihnen das Regime von Präsident Wladimir Putin die Arbeit unmöglich macht. Oder sie gar verfolgt und einkerkert. Anfang März hat die russische Regierung im Eilverfahren ein restriktives Mediengesetz durchgedrückt, das Präsident Putin wenige Wochen später noch verschärfte: Wer fortan "Falschinformationen" über die Geschehnisse in der Ukraine verbreitet, also vom Kreml-Narrativ abweicht, oder wer allein das Wort "Krieg" verwendet, dem drohen bis zu 15 Jahre Haft. Nach und schaltete die russische Zensurbehörde Roskomnador kritische Medien aus, etwa den Radiosender Echo Moskwy. Auch die traditionsreiche Zeitung Nowaja Gaseta stellte den Betrieb bis auf Weiteres ein.

Flüge zahlen, Büros finden, Redaktionen mitaufbauen

Während unabhängiger russischer Journalismus im Inland verstummt, baut er sich im Ausland neu auf. In der georgischen Hauptstadt Tiflis etwa basteln derzeit vier junge Journalistinnen in einem improvisierten Studio an einem neuen Videokanal. Drei von ihnen arbeiteten zuvor in Moskau für ein Netzmagazin, die vierte für den berühmten TV-Sender Doschd. Derartige Exilredaktionen sind von großer Bedeutung, denn sie vermögen noch am besten, die heimische Propaganda zu durchbrechen und - trotz Zensur - Russinnen und Russen zu erreichen. Sie aber aufzubauen, kostet "viel Zeit und Geld", sagt Kirill Martynov. Er muss es wissen, denn zusammen mit anderen rief er Ende April die Nowaja Gaseta Europa ins Leben, einen europäischen Ableger der in Russland schikanierten Zeitung. Inzwischen arbeiten dort mehr als 50 Journalisten.

Exiljournalismus: Der russische Exiljournalist Kirill Martynov, hier 2015 in Moskau bei der Verleihung des Journalistenpreises PolitProsvet.

Der russische Exiljournalist Kirill Martynov, hier 2015 in Moskau bei der Verleihung des Journalistenpreises PolitProsvet.

(Foto: imago/ITAR-TASS)

Ihr Büro in der lettischen Hauptstadt Riga wurde aus einem Geldtopf mitfinanziert, den es in dieser Form noch nicht gegeben hat: Der JX Fonds soll Nothilfe für Medienschaffende im Exil leisten, indem er ihnen Strukturen zum Arbeiten schafft - und zwar möglichst unbürokratisch. Das kann heißen: Flüge zahlen, Büroräume finden, Medien untereinander vernetzen, Redaktionen mitaufbauen. Damit sie "schnell und flexibel weitermachen können", erklärt Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF). Seine NGO hat den Fonds zusammen mit der Rudolf-Augstein-Stiftung und der Schöpflin-Stiftung Ende März gegründet. Inzwischen ist er richtig angelaufen: Nach RSF-Angaben wurden bisher acht ausländischen Medien und damit mehr als 120 Journalisten Hilfen bewilligt. Einfluss auf die Berichterstattung will RSF nicht nehmen. "Wir sind keine Implementierungsorganisation", sagt Mihr. Und wenn Exiljournalisten plötzlich Propaganda verbreiten? "Das lässt sich dann nur am konkreten Fall beantworten." Ein fünfköpfiger Expertenrat prüfe die Unabhängigkeit der anfragenden Medien, sie dürften mit keiner Partei oder Regierungsorganisation verbunden sein.

Viele Bewerbungen für den Fonds kommen derzeit aus Russland, andere aus der Ukraine und Belarus. Darunter sind auch Medien im Exil, die gar nicht über den Krieg berichten, sondern über Bildung, Umwelt oder Archäologie. Die Medienschaffenden, die Russland jetzt wegen Repression verlassen haben, sind recht verstreut und meistens dort, wo sie leicht hinkommen: Georgien, Lettland, die Türkei, aber nicht in Deutschland. Den Grund dafür fasst Nowaja Gaseta Europa-Chef Martynov in zwei Worten zusammen: "deutsche Bürokratie". Bisher gelangten gefährdete Russen nur mit Schengenvisa in die Bundesrepublik. Die verfallen nach maximal drei Monaten, das verhindert, dass Journalisten ihre Arbeit langfristig aufnehmen können.

Neu ist auch, dass Claudia Roth im Aufnahmeprozess mitentscheidet

Nun hat sich die Bundesregierung dazu durchgerungen, verfolgten Russinnen und Russen im "Einzelfall" aus humanitären Gründen ein Visum über das Aufenthaltsgesetz zu gewähren. "Damit erleichtern wir die Einreise und beschleunigen die Verfahren deutlich", versprach Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Auf Nachfrage spezifiziert eine Sprecherin des Ministeriums: Die Regelung betreffe Personen, "die in Russland besonders von politischer Verfolgung bedroht sind". Berechtigt seien zum Beispiel Journalisten, Menschenrechtsverteidigerinnen und Wissenschaftler. Im Unklaren bleibt, was mit denjenigen geschieht, die bereits Visa haben. Können die bereits ausgestellten "Schengenvisa in Arbeitsvisa umgewandelt werden?", fragt Christian Mihr, RSF-Geschäftsführer. Er ist skeptisch. Auch was die Einzelfallregelung betrifft: "Aus Erfahrung" fürchtet er, dass diese "restriktiv" ausgelegt werden könnte. Trotz alledem hält Mihr Faesers Ankündigung für "eine Art Durchbruch". Neu ist auch, dass die Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth (Grüne) in dem Aufnahmeprozess mitentscheidet. Beim chaotischen Rückzug aus Afghanistan, bei dem Ortshelfer und andere gefährdete Personen anfangs schwer an deutsche Visa kamen, entschieden nur Auswärtiges Amt und das Innenministerium. Ob die neue Akteurin aus der Kultur die Verfahren tatsächlich entschlackt, bleibt abzuwarten.

Matvei Golovanov hört von dem Fonds zum ersten Mal, er kämpft sich bislang auf eigene Faust durch. "In Russland war ich auch ganz allein", sagt der geflohene Journalist. Ob er weiterarbeiten will? "Ja, ich könnte anfangen." Er hat alles, was er braucht: Kamera, Handy, seinen Presseausweis hält er ins Bild. Aber eigentlich will er zurück nach Russland und dort arbeiten. "Doch das kann ich jetzt nicht." Zwei Wochen nachdem er aus dem Gefängnis freigekommen war, entdeckte Golovanov seinen Namen in einem putintreuen Telegram-Kanal auf einer Liste. Die Überschrift: "Verräter von Russland". In dem Moment entschied er, seine Heimat zu verlassen.

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