Reportagen im "New Yorker":Champagner mit Hemingway

Lillian Ross

"Ich bin bloß neugierig": Lillian Ross wurde 1918 oder 1919 in Syracuse im Staat New York als Tochter jüdischer Einwanderer geboren; sie lebt in Manhattan.

(Foto: The LIFE Picture Collection/Getty)

Lillian Ross war sechzig Jahre lang Reporterin beim Magazin "New Yorker" und hat ganz allein den New Journalism erfunden. Jetzt sind ihre erstaunlichen Texte in einem Band erschienen.

Von Willi Winkler

Der berühmte New Journalism ist genau 97 Jahre alt, vielleicht auch erst 96, pflegebedürftig inzwischen natürlich, aber noch immer zu Spott und bösen Bemerkungen aufgelegt, und voller Interesse an dem, was in den Bars geredet wird, was im Fernsehen, im Kino läuft, an allem, was der Klatsch bietet. Tom Wolfe, Norman Mailer, Hunter S. Thompson, vielleicht auch Gay Talese gelten als Erfinder dieser neuen amerikanischen Form zu schreiben: mehr erzählend als faktenzentriert, literarisch und immer mit dem Autor als Teil der Geschichte. Die schöne Legende hat nur den Schönheitsfehler, dass er, der fabelhafte New Journalism, eine Sie ist, eine Frau. Sie heißt Lillian Ross.

Nie gehört? Das ist ein Versäumnis, aber leicht gutzumachen, denn eben ist unter dem Titel Reporting Always (Scribner: New York, 340 Seiten, ungefähr 23 Euro) eine Auswahl der Arbeiten von Lillian Ross erschienen. Im Vorwort erwähnt sie die "unvergessliche Begeisterung", mit der sie reagierte, als sie ihre ersten Zeilen gedruckt sah. Sie ging noch zur Schule und hatte die Aufgabe, über die neue hauseigene Bibliothek zu schreiben. Sie fand die richtigen, die ewiggültigen schlichten Worte: "Dicke Bücher, dünne Bücher, neue Bücher, alte Bücher . . ."

Ihr Geburtsjahr wollte sie nicht einmal ihrem eigenen Sohn verraten

Eine Redakteurin empfahl sie mit den Worten, sie könne über alle Themen "von Politik bis Form-Korsagen" schreiben, zum New Yorker, dem im Krieg die Männer ausgingen. Frauen sollten nur fleißig sein und den Herren zuarbeiten, aber Lillian Ross etablierte sich sofort als eigenständige Schreiberin.

In allen Bibliothekskatalogen der westlichen Welt ist 1927 als ihr Geburtsjahr angegeben, es stimmt bloß nicht. Nicht einmal ihrem eigenen Sohn würde sie verraten, wie alt sie sei, hat sie immer erklärt, aber ein findiger Reporter hat Lillian Rosovsky in den Unterlagen der Volkszählung von 1940 entdeckt. Danach ist sie 1918 oder 1919 in Syracuse im Staat New York in einer aus Russland ausgewanderten jüdischen Familie geboren und in Brooklyn aufgewachsen. Von dort stammt auch Sidney Franklin, der erste jüdische Stierkämpfer, dem sie 1949 ein hinreißendes Porträt widmete, "El Único Matador", eine derart unglaubliche Geschichte, dass sie von Rechts wegen sofort verfilmt werden müsste.

Kein katastrophaleres, kein wahrhaftigeres Bild der Filmindustrie

Lillian Ross ging als Kind immer ins Kino und lernte dort das Schauen, das geduldige Beobachten. Von ihrer längsten Reportage "Picture" (1952) ist nur der Anfang im Buch aufgenommen, was vielleicht ganz gut ist, weil es kein katastrophaleres, also kein wahrhaftigeres Bild der Filmindustrie gibt. Lillian Ross war zu den Dreharbeiten für die Rote Tapferkeitsmedaille nach dem Bürgerkriegsroman von Stephen Crane eingeladen. Unverhofft wurde sie Zeugin, wie das große alte Hollywood starb.

Mehr als ein Jahr schaute sie bei allem zu, konnte den redseligen Regisseur John Houston schildern, die hierarchisch gegliederte Einrichtung der Chefbüros in Hollywood, die Feigheit der Cutterin (die mit Namen genannt und wörtlich zitiert wird), die den Film erst preist und dann, weil die Chefs es vorsagen, verdammt. Sie recherchiert die Preise für die Perücken, das Jahresgehalt für die Erste Geige des Studioorchesters, und was die Jugendlichen bei den Probevorführungen auf die Bewertungskarten schreiben. Das letzte Wort bei diesem Desaster hat die Frau des Produzenten: "Kein Mensch in dieser ganzen Stadt weiß, wie man es macht, dass der Busen richtig sitzt."

Näher als erlaubt

Und der New Yorker zahlte das alles, druckte das und druckte Lillian Ross über sechzig Jahre lang. Ganz früh, 1950, kam Ernest Hemingway nach New York, um seinen neuen Roman Über den Fluss und in die Wälder zu bewerben. Lillian Ross begleitete ihn drei Tage lang und malte ein erschreckendes Konterfei des großen Schwadroneurs.

Hemingway trinkt Champagner und sieht sich im Boxring mit Dostojewski und Stendhal. Im Museum vergleicht er sich mit Cézanne, versagt aber beim Mantelkauf. Die Stadt verabscheut er, aber die Tiere mag er, und die Tiere mögen ihn. In Montana, erzählt er, habe er sich einmal mit einem Bären angefreundet und eine Zeitlang mit ihm zusammengelebt. "Der Bär schlief mit ihm und betrank sich mit ihm. Er war ein richtig guter Freund." Hemingway las dieses Porträt vor Erscheinen und fand sich richtig getroffen; die beiden blieben befreundet.

Sie habe keine Motive, nur neugierig sei sie

Den Stars, über die sie schreibt, kommt sie viel näher, als es der Sittenkodex für objektiven Journalismus erlaubt, aber trotzdem entstehen nie diese lauwarmen home stories, in denen die vielversprechende Schauspielerin mit dem Fahrrad zum Gesprächstermin erscheint, im Korb hinten das biologisch-dynamische Gemüse für die alleinerzogene Tochter, und dann mit kurzen Schlucken aus der Tasse lindgrünen Tees sturzbanale Interviewsätze abliefert.

"I don't have any motives. I'm just interested", hat sie gesagt, nur neugierig sei sie. Dabei beherrscht sie selbstverständlich die Grundlagen. Nie versäumt sie es, genau aufzulisten, was einer trägt, Hemd, Hose, Pullover oder im Anzug und von wem, wie groß der Mann ist oder wie klein. Mehrfach hat sie über den Schauspieler Robin Williams geschrieben, auch über seine Frau, die mit ihm seinen größten Erfolg Mrs. Doubtfire produzierte. Sie referiert das Alter aller Patchwork-Kinder, sie beschreibt das Spielzimmer und den Trailer, in dem Williams zur dicken Kinderfrau umgeschminkt wird, sie erzählt auch, wie er, bereits berühmt, unangekündigt in New York auf einer Bühne erscheint und die Zuschauer mit seinem Können und seiner Geistesgegenwart verzaubert.

Warum sie ihre eigene Firma gegründet hätten, fragt Lillian Ross. "Um Kontrolle über die Dreharbeiten zu haben", antwortet Marsha Williams. "Aber vor allem, um Robin zu beschützen." Lillian Ross hat ihn kaum weniger geliebt und auch nicht beschützen können: 21 Jahre und eine Ehe später hielt der Schutz nicht mehr und Robin Williams starb.

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