Claas Relotius bleibt auch in dieser Version der Geschichte der raffinierte, liebenswürdige, aber eiskalte Betrüger, der sogar das wichtigste Nachrichtenmagazin Deutschlands gelinkt hat. Von dessen Lesern ganz zu schweigen. Der Spiegel aber, diese große journalistische Instanz, hat in der neuesten Version deutlich an Glanz verloren.
Am Freitag wurde in Hamburg der Abschlussbericht einer Kommission vorgestellt, die den Betrugsfall fünf Monate lang analysiert hat. Volle Transparenz also, aber: die Zitate sollten vor der Veröffentlichung autorisiert werden. "Wir haben in einem Ausmaß Fehler gemacht, das, gemessen an den Maßstäben dieses Hauses, unwürdig ist", fasste Chefredakteur Steffen Klusmann zusammen. Aus dem Bericht hat der Spiegel auf seine Art eine Geschichte gemacht, 17 Heftseiten.
Im Dezember 2018 hatte der Spiegel die Fälschungen des preisgekrönten Reporters Relotius im eigenen Haus offengelegt - bevor es ein anderer tat, denn zu der Zeit waren auch eine US-Journalistin und zwei Blogger dem Reporter auf der Spur. Relotius hatte über Orte geschrieben, an denen er niemals war, er hatte Figuren erfunden und Zitate gefälscht. Vor seiner Zeit beim Spiegel auch in etlichen anderen Medien. Klusmann schätzte am Freitag, 95 Prozent der rund 60 beim Spiegel veröffentlichten Geschichten seien "journalistisch wertlos", neun seien komplett erfunden.
Die meisten der Relotius- Geschichten im Spiegel seien journalistisch wertlos
SZ Magazin In eigener Sache:SZ-Magazin vom Fall Relotius betroffen
Auch das "SZ-Magazin" hat im Jahr 2015 zwei manipulierte Interviews von Claas Relotius veröffentlicht, der umfangreiche Fälschungen im "Spiegel" eingestanden hat.
Um herauszufinden, wie die Fälschungen im Magazin hatten landen können, befragte eine Kommission mit zwei Spiegel-Kollegen und Brigitte Fehrle, früher Chefredakteurin der Berliner Zeitung , als externer Vertreterin, seit Anfang des Jahres Dutzende aktuelle und ehemalige Mitarbeiter. So ergibt sich nun das Bild eines recht frostigen, abgeschotteten und zugleich gespaltenen Hauses.
Am meisten schockiert habe sie bei ihrer Arbeit, sagte Brigitte Fehrle, wie man mit dem Kollegen umgegangen sei, der Relotius überführt hatte. Man habe viel zu lang geglaubt, hier schwärze ein freier Mitarbeiter einen Starreporter an. Noch zwei Wochen nach Juan Morenos Vorwürfen hat der damalige Ressortleiter Matthias Geyer laut Bericht eine Titelgeschichte mit einem Einstieg von Relotius veröffentlicht. Trotz aller Zweifel. Der berichtet von einer Insel, auf die er laut Kommission wohl nie einen Fuß gesetzt hat.
Der Abschlussbericht geht nach der internen Analyse relativ schnell dazu über, die Reportage als anfällige Textform sowie dubiose Praktiken, die demnach an Journalistenschulen gelehrt würden, als Ursachen zu reflektieren. Auf welch spezielle Art jedoch Reportagen beim Spiegel entstehen konnten, zeigt ein im Bericht zitierter Mailwechsel zwischen Geyer und seinen Autoren Relotius und Moreno über eine geplante Reportage. "Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land (...) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies, gutes Leben in USA (...) Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten über die Grenze will (...) Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres."
Woher kommen solch überhitzte Ansagen? Die Kommission nennt neben einer fragwürdigen Fehlerkultur den Druck im Haus als Teil des Problems. Vor allem im Gesellschaftsressort werde großer Wert auf Journalistenpreise gelegt. In der Vergangenheit habe es vonseiten der damaligen Chefredaktion Überlegungen gegeben, das Ressort aufzulösen, als die Frequenz zwischenzeitlich gesunken sei.
Überhaupt: das Gesellschaftsressort. Immer wieder landet die Untersuchungskommission bei den Besonderheiten dieses Teams. Im Bericht heißt es, es habe "im Haus den Ruf, sich abzuschotten, auch gegenüber Kritik". Als das Spiegel-Reporter-Magazin 2001 eingestellt wurde, transferierte der damalige Chefredakteur die Mannschaft unter Ressortleiter Cordt Schnibben in das neue Ressort Gesellschaft. Ullrich Fichtner, damals Reporter, später Ressortleiter, sagte der Kommission: "Wir sind hier reingekommen wie Israel in die arabischen Gebiete und hatten sofort einen Sechstagekrieg." Kollegen aus anderen Bereichen berichteten, die Gesellschaftsreporter hätten "verbrannte Erde" hinterlassen und ihnen die Arbeit in ihren Berichtsgebieten erschwert. Es ist bemerkenswert, wie deutlich hier intern Schuld verteilt wird in einer Redaktion, die ihre Türen sonst gern verschlossen hält. Und zugleich unvermeidbar im Zeitalter der Kommunikation.
Zudem wird klar: Überall im Haus wurden Warnungen missachtet. Die NZZ hatte die Zusammenarbeit mit Relotius 2014 beendet, nachdem sie eine Berichtigung hatte drucken müssen - beim Spiegel war das wohl nicht angekommen. 2017 hatte eine Amerikanerin den Spiegel angetwittert, eine Reportage aus ihrem Ort sei gefälscht - durchgerutscht. Ein Leserbrief mit Hinweisen sei zwar bei der Chefredaktion gelandet - aber versandet.
Die Kommission untersuchte auch Texte etlicher anderer Autoren und wird damit fortfahren. So befördert der Transparenz-Tsunami auch 15 Jahre alte Texte ans Licht, in denen namentlich nicht genannte Großautoren lebhaft Dinge beschreiben, die sie nie selbst gesehen haben. Als besonders dreister Fälscher der Gegenwart ist laut Bericht ein freier Autor aufgeflogen: Von ihm sei unter anderem eine Geschichte erschienen, die der Spiegel großteils so bereits 1958 veröffentlicht hatte. Damals von einem anderen Autor.
Personell hatte der Fall bisher nur sanfte Folgen: Ein Faktenchecker hat sich in den Ruhestand verabschiedet, die beiden Ressortleiter von Relotius, Fichtner und Geyer, wurden nicht wie geplant zum Chefredakteur beziehungsweise Blattmacher befördert. Jetzt aber will Klusmann das Gesellschaftsressort umbauen. Ob er sich vorstellen könne, dass der Spiegel ohne das Ressort im Inhaltsverzeichnis erscheinen wird? "Mal abwarten."