Süddeutsche Zeitung

Fall Relotius:Journalisten müssen der Wahrheit dienen, nicht dem eigenen Ruhm

Reporter haben in der Gesellschaft eine Aufgabe zu erfüllen: Sie setzen das Bild der Welt zusammen. Wenn sie dabei lügen, stimmt die Welt nicht mehr.

Kommentar von Annette Ramelsberger

Auch Egon Erwin Kisch, später der größte aller Reporter, war verführbar. Als junger Mann, so behauptet er es in seinen Memoiren, wurde er von seiner Zeitung zu einem Mühlenbrand geschickt. Doch die Kollegen von der Konkurrenz waren längst da, hatten die besseren Kontakte zu Polizei und Feuerwehr, bekamen genauere Informationen. Kurz: Kisch konnte nicht besser sein als die anderen - und hatte eine Idee. Er begann zu fantasieren. Er ließ Obdachlose im Schein der Flammen auftauchen, er beschrieb, wie sich ein gewalttätiger Hüne und ein Gendarm drohend gegenüberstanden.

Tags darauf fragten die Chefredakteure der Konkurrenzblätter ihre Leute: "Warum haben wir das nicht?" Und als die Journalisten zu erklären versuchten, das sei doch so gar nicht gewesen, da schimpfte ein Chef seinen Reporter: "Komisch, dass sich die anderen immer die interessantesten Lügen ausdenken, und Sie immer nur die langweiligste Wahrheit wissen."

Wer jetzt lacht, der hält das für eine lustige Schmonzette; der meint, so sind sie, die Journalisten: Sie übertreiben und dürfen nicht zu ernst genommen werden. Wer nicht lacht, ist vermutlich selbst Journalist und kennt den Druck, dem Reporter ausgesetzt sind: Sie sollen die beste, schnellste, exklusive Geschichten bringen.

Wenn Journalisten lügen, ist Aufregung angebracht. Immer. Ganz besonders ist sie jedoch angebracht, wenn es das Sturmgeschütz der Demokratie trifft, den Anker journalistischer Verlässlichkeit, das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Denn der Spiegel ist einem Betrüger aufgesessen. Da hat nicht irgendein von der Industrie bezahlter Influencer zu schamlos über seine bevorzugten Produkte schwadroniert. Da hat kein Blogger nur mal seine private Sicht der Dinge rausgeblasen. Über Jahre hinweg hat der Reporter Claas Relotius, erst 33 Jahre alt, den Spiegel und andere Medien, auch das SZ-Magazin, mit zusammenfantasierten Reportagen und Interviews beliefert. Das geht an die Grundfesten.

Relotius brachte Preis um Preis nach Hause. Er schrieb Geschichten, die "larger than life" waren, größer und schöner als das Leben, mit perfekten Protagonisten, mit einer Dramaturgie, die sich ein Regisseur nicht besser hätte ausdenken können. Seine Texte entwickelten einen Sog wie ein Roman. Genau das waren sie auch: Geschichten von einem Märchenerzähler, der sich als Journalist ausgab. Es ist der GAU, für den Spiegel und für die ganze Branche. Denn Journalisten leben davon, dass man ihnen glaubt.

Deswegen verbietet sich jede Häme. In einer Zeit, in der "Fake News" zum Kampfbegriff geworden sind und Rechtspopulisten ihre eigenen Wahrheiten streuen, ist Glaubwürdigkeit lebensnotwendig für den Journalismus. Wenn man sich darauf nicht mehr verlassen kann, zerbröckelt das Fundament der Demokratie. Journalisten setzen das Bild der Welt zusammen - wenn sie dabei lügen, stimmt die Welt nicht mehr. Die Verführung ist stark, dieses Bild ein wenig aufzupolieren, es funkeln zu lassen - und damit auch sich persönlich. Selbst der solideste Reporter, die leidenschaftlichste Reporterin kennt die Tage, an denen bei der Recherche nichts läuft wie gewünscht: das Meer vor Libyen spiegelglatt und kein Schlepperboot in Sicht; das Dorf in Sachsen, wo der Neonazi-Aufmarsch sein soll, ausgestorben und kein Nazi weit und breit; der Gesprächspartner maulfaul und uninspiriert. Man kann dann entweder fantasieren - oder weitersuchen, die "extra Meile gehen", wie US-Journalisten das nennen. Wenn man Glück hat, das Reporterglück, findet man dann jemanden, der einem erzählt von seinen Erlebnissen - mit den Schleppern, mit den Nazis. Aber reicht das der Redaktion? Ist das gut genug, um gedruckt zu werden? Um zu glänzen?

Mancher spürt dann die Versuchung, dem hölzernen Bürgermeister einen würzigen Satz in den Mund zu legen. Oder so zu tun, als wäre man dabei gewesen, obwohl man es nur erzählt bekam. Oder sich in den Kopf eines Protagonisten zu versetzen, als könne man seine Gedanken lesen. Kunstgriffe? Nein: Dies ist ein schleichender Abschied von Richtigkeit und Korrektheit. Wenn man Glück hat, gibt es einen Schuss vor den Bug. Dann fragt der Anwalt, ob man im selben Prozess war wie er, gibt es Protest aus dem Dorf, das man beschrieben hat - so wie im Fall von Relotius, dem zwei Blogger aus Fergus Falls in Minnesota nachwiesen, dass bis auf Durchschnittstemperatur und Einwohnerzahl kaum etwas stimmte an seiner Geschichte.

Der Reporter ist draußen allein, es fehlt die soziale Kontrolle, der kritische Blick der Kollegen. Auf der Journalistenschule haben sie einem beigebracht: "Wenn du Mist über den amerikanischen Präsidenten schreibst, passiert erst mal nichts. Schreibst du Mist über den Bürgermeister, steht er am nächsten Tag vor deinem Schreibtisch." So ist es. Und diese Nähe erdet. Sie verhindert Abgehobenheit, lässt aus jeder Fantasie die Luft raus. Sie hält einen ab davon, sich als Wunderkind zu fühlen oder als Star, dessen Texte unantastbar sind. Journalisten nehmen sich oft wichtiger als die Menschen, über die sie schreiben. Oft sind für sie Preise größer als die Probleme, die sie beleuchten. Redaktionen und Leser lieben die glitzernden Geschichten. Relotius ist heute; gestern war Tom Kummer, der Interviews erfand, die das SZ-Magazin druckte.

Man kann aus alldem lernen. Zu allererst: Journalisten sind keine Künstler, sie sind meist ordentliche Handwerker. Zweitens: Sie müssen der Wahrheit dienen und nicht dem eigenen Ruhm. Drittens: Sie haben eine Aufgabe. Sie sind die von Karl Kraus sogenannten Kehrichtsammler der Tatsachenwelt, die dokumentieren, nachfragen und zweifeln. Daraus entstehen dann zwar keine Texte wie Discokugeln, die nach allen Seiten glitzern. Aber dem Ansehen des Journalismus und der Aufgabe, die er in der Gesellschaft hat, hilft die solide Geschichte mehr als Texte, die zu schön sind, um wahr zu sein.

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Quelle:
SZ vom 22.12.2018/lalse
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