Julian Reichelt:Von der Opferrolle

Bild - Julian Reichelt

"In zwanzig Minuten am Telefon entsorgt": Julian Reichelt.

(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Der geschasste Bild-Chef Julian Reichelt gibt der Wochenzeitung "Die Zeit" ein bemerkenswertes Interview. Was und wer offenbart sich hier?

Von Cornelius Pollmer

Die Wochenzeitung Die Zeit hat sich in den vergangenen Jahren etabliert als eine der ersten Adressen für große Beicht- und Bekenntnisgespräche. Das hat längst nicht nur, ein bisschen aber schon damit zu tun, dass die Beichtenden und Bekennenden in aller Regel ganz gut wegkommen. In der aktuellen Ausgabe nun steht auf einer Doppelseite ein riesiges Interview mit Julian Reichelt, dem geschassten Chefredakteur von Bild. Die erste Frage stellt sich in diesem Fall noch vor dem Lesen - wie würde nun gerade dieses Gespräch temperiert sein, wo steht der Heizungsknauf auf der Skala zwischen dem frostigen Stern und der verschwenderischen Stufe 5?

Nachdem er im Frühjahr ein Compliance-Verfahren überstanden hatte, ist Reichelt Mitte Oktober bei Bild dann doch gegangen worden. Im Kontext seiner Demission war von Affären und Machtmissbrauch die Rede. Das Gespräch in der Zeit ist Reichelts erste ausführliche Einlassung zur Sache seit seinem Ausscheiden beim Axel-Springer-Konzern.

Besonders interessant in diesem bemerkenswerten Interview sind Reichelts Aussagen zu Springer-Vorstand Mathias Döpfner, zur Berichterstattung speziell des Spiegel über seine Person und zur Frage, wer und was eigentlich ein Opfer ist und sein möchte.

Der Reihe nach: Döpfner hatte zum Ende Reichelts über ebendiesen gesagt, er habe nicht aus seinen Fehlern gelernt und den Vorstand auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens belogen. Reichelt sagt jetzt, er habe "Döpfner da nicht angelogen. Deswegen hat es mich sehr überrascht, wie überrascht er gewesen sein will". Außerdem sagt Reichelt, er sei von Döpfner "nach zwanzig Jahren loyaler Arbeit, zehn davon in Kriegsgebieten" in "zwanzig Minuten am Telefon entsorgt" worden.

Hauptversammlung Axel Springer SE

Sehr überrascht? Mathias Döpfner will vom Verhalten Reichelts nichts gewusst haben.

(Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Über den Spiegel, der besonders offensiv berichtet hatte über die Causa (eine der Schlagzeilen lautete: "Vögeln, fördern, feuern", der Bericht wurde Ende November von einem Gericht untersagt), sagt Reichelt nun, er sei "das perfekte Beispiel dafür, wie sich Ideologie in Redaktionen ausgebreitet hat", das Magazin habe "Sachverhalte erfunden, damit es ins Weltbild passt", und "alle zentralen Zitate frei erfunden". Dies füge sich in einen Zeitgeist, Reichelt diagnostiziert einen "Wahn, Menschen als Opfer sehen zu wollen", und wo es Opfer gebe, da brauche es eben auch Täter.

Medienstrategisch hat Reichelt sich also für die Parole "Angriff ist der beste Angriff" entschieden. In der Rezeption des angemessen kühl geführten Gesprächs fallen zwei Dinge auf. Erstens weisen Leser darauf hin, dass es einigermaßen grotesk sei, wenn ausgerechnet der ehemalige Chef von Bild beklagt, mit nur vagen Vorwürfen öffentlich verurteilt und beruflich beschädigt worden zu sein. Zweitens aber stellt sich die Frage, ob die womöglich berechtigte Kritik an der Nichteinhaltung journalistischer Standards unbeachtet bleiben sollte, nur weil sie einer äußert, dessen früheres Haus diese Standards selbst nicht immer eingehalten hat.

Auf Julian Reichelt wird man als Stimme in dieser Diskussion offenbar nicht verzichten müssen. Während schon sein Twitter-Profil ("I'll be back") kaum Raum für Interpretation lässt, sagt Reichelt auch der Zeit zum Schluss, er wolle weiter "Journalismus für die Massen" betreiben und "die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Woke-Wahnsinnigen" suchen.

Zur SZ-Startseite
Springer-Chef Mathias Döpfner

SZ PlusEntscheidung über Mathias Döpfner
:Eine Frage der Verfassung

Die deutschen Zeitungsverleger entscheiden über die Zukunft ihres Präsidenten Mathias Döpfner. Dabei geht es um weit mehr als um den Springer-Chef, es geht um das Bild, das die Presse in diesem Land von sich selbst hat.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: