Süddeutsche Zeitung

Reflexionen eines Reporters:"Hey Jungs, nehmt doch diese Bahn"

Lesezeit: 8 min

Im vorigen Herbst begleitet unser Autor syrische Flüchtlinge durch Europa. Er weiß, dass guter Journalismus Distanz braucht - und eine gute Geschichte Nähe zu den Protagonisten. Über ein Dilemma.

Von Stefan Klein

Der Anruf kommt am 8. Dezember 2014 gegen Mittag. Der Anrufer stellt sich vor als Beamter der Bundespolizei München und sagt, die Staatsanwaltschaft Offenburg ermittele gegen mich wegen des Verdachts der Einschleusung von Ausländern, und ob ich mich dazu äußern wolle. Ich bin mir keiner Schuld bewusst, habe aber eine vage Ahnung, worum es sich handeln könnte. Ich sage, der Vorwurf sei absurd und zu Absurditäten würde ich mich nicht äußern. Der Anrufer lacht und legt auf.

Sieben Wochen davor bin ich in der sizilianischen Hafenstadt Augusta, als gerade eine Fregatte anlegt mit 510 schiffbrüchigen Flüchtlingen an Bord. Afrikaner, Syrer. Es ist das Jahr, als Europa ächzt unter dem Zustrom von Flüchtlingen, im reichen München finden sich kaum noch Unterkünfte. Flüchtlinge sind das Thema dieser Wochen, und in der Redaktion entsteht die Idee, Flüchtlinge auf ihrem Weg durch Europa zu begleiten - von der Ankunft bis zu ihrem Zielland.

Ihre bangen Fragen richten sie an den, der erkennbar kein Flüchtling ist. Was soll ich sagen?

An diesem makellos schönen Tag in Augusta ist der Anfang gemacht. 510 Flüchtlinge: An einen von denen, vielleicht auch an eine Gruppe, will ich mich anhängen, und schon im Hafen wird klar, dass kaum einer in Italien bleiben will. Man merkt es an den Fragen. Muss ich mir meine Fingerabdrücke nehmen lassen? Was passiert, wenn ich mich weigere? Die Flüchtlinge wollen in Länder weiter nördlich, aber sie wissen, dass man sie nach Italien zurückschicken wird, wenn sich anhand des Fingerabdrucks nachweisen lässt, dass sie dort angekommen sind.

Deshalb die bangen Fragen. Sie richten sich an den, der interessiert herumsteht unter den Flüchtlingen und ersichtlich keiner von ihnen ist. Was soll ich sagen? Ich habe meine Meinung zu dem Regelwerk, mit dem sich die Nordländer der EU die Flüchtlinge vom Hals zu halten versuchen, aber ich kann nicht dazu auffordern, es zu umgehen. Das wäre gegen das Gesetz, und ich bin schließlich kein Fluchthelfer.

Aber ich bin auch nicht der Wachhund am Einlasstor zur Festung Europa. Ich möchte einen Flüchtling dazu gewinnen, mich als Reisebegleiter zu akzeptieren. Da wäre es eher kontraproduktiv, sich als staatstreuer Gesetzeshüter aufzuspielen. Ich sage, nach allem, was ich wüsste, nähmen es die Italiener nicht so schrecklich genau mit den Fingerabdrücken, sie seien froh, wenn Flüchtlinge weiterzögen in andere Länder.

Zwei Tage später in Mailand. Die beiden Syrer Ibrahim und Wesam haben es geschafft, in Sizilien die Fingerabdrücke zu vermeiden, jetzt sind sie auf dem Weg nach Norden im Mailänder Hauptbahnhof gelandet, ich in ihrem Schlepptau. Fast alle, die übers Mittelmeer kommen, tauchen früher oder später hier auf. Für die Flüchtlinge ist der Bahnhof ein Treffpunkt, eine Informationsbörse, eine Art Basislager vor der Weiterfahrt, wo sie Unterstützung bekommen und Tipps, wo noch Schlafplätze sind in der Stadt. Zum Beispiel in einem Sportkomplex am Rande der Stadt.

Der Sportkomplex erweist sich als so kalt und ungastlich, dass Ibrahim und Wesam wieder kehrt machen. Sie haben von einer Moschee gehört und glauben, dass man sie dort willkommen heißen wird. Aber bald haben sie sich im Mailänder U-Bahn-Dschungel hoffnungslos verfahren. Beide haben Schweres hinter sich, beide sind todmüde, jetzt auch noch lost in transportation, Ibrahim und Wesam sehen aus, als müsste man sich Sorgen machen um sie. Hinter ihnen stolpert einer her, der sie auf die richtige Schiene setzen könnte, aber darf er das? Er, der doch nur Beobachter ist?

Journalistisch gesehen ist klar, was zu tun ist: den Dingen einfach ihren Lauf lassen, wie ungut es auch enden mag. Schließlich ist es mein Job, die Realität abzubilden und nicht etwa Retuschen anzubringen, indem ich zum Beispiel sage, hey, Jungs, nehmt doch diese Bahn.

Oder?

Ich bin seit mehr als vierzig Jahren Reporter, und ich habe gelernt, dass es als Ausweis guter Arbeit gilt, wenn man es schafft, nahe, ganz nahe an seine Protagonisten heranzukommen. Es gibt dabei jedoch ein Problem: Je mehr Nähe desto weniger Distanz. Der Blickwinkel verändert sich, vielleicht entstehen sogar Gefühle, Sympathie, Antipathie, und schon ist man als Beobachter nicht mehr so neutral und objektiv, wie man doch sein wollte.

Nah dran, ganz nah dran, und noch näher

1985 bei der Jahrhundert-Hungersnot in Äthiopien war der Schock für den jungen und noch sehr unerfahrenen Afrika-Korrespondenten zu groß, als dass er Gefühle hätte entwickeln können. All das Sterben in den Todeslagern, die kleinen Skelettkinder mit den riesigen Köpfen, die in Wahrheit gar nicht so riesig waren, sondern nur so aussahen auf den geschrumpften Körperchen: In diesen Tagen und Wochen bin ich niemandem nahe gekommen, der Selbstschutz ließ es nicht zu.

Aber dann 1996, Sri Lanka, Geburt im Teefeld, es ist eine Weihnachtsgeschichte, sie soll anrühren, und die Zutaten sind da: Eine arme Teepflückerin, ein Kind nicht gerade in der Krippe, aber so ähnlich. Die Rubrik über der Reportage lautet: "Und kein neuer Stern wird aufgehen."

Nah dran, ganz nah dran, und noch näher: Die Süddeutsche Zeitung hat noch Geld, ein Konto wird eingerichtet für das Neugeborene, eine ordentliche Summe wird eingezahlt, fünf Jahre lang soll die Mutter jeden Monat 700 Rupien abheben können - für das Kind. Aber irgendetwas läuft falsch, schon nach einem Jahr ist das Konto leer. Enttäuschte Erwartungen, getrogene Hoffnungen, es ist ein Desaster. Der Fluch der zu großen Nähe.

Und jetzt wieder. Drei Menschen reisen zusammen, sie essen zusammen, und bald sind Ibrahim und Wesam für den Dritten nicht mehr die Zufallsbekanntschaften der ersten Stunden. Hinter dem Wort Flüchtling sind Menschen mit Geschichten zum Vorschein gekommen: Ibrahim, der in Damaskus ein Krankenhaus geleitet hat, Wesam, der Literaturwissenschaften studiert und Nietzsche gelesen hat.

Wesam erzählt von den Opfern, die seine Eltern gebracht haben, um die Flucht des Sohnes zu finanzieren. Ibrahim erzählt von der schwangeren Ehefrau, die er zurückgelassen hat und so schnell wie möglich nachholen will. Ihre Geschichten handeln vom Krieg und vom Heimweh, vom Schrecken der Meere und von der Raffgier der Schleuser, und irgendwann ist es nicht mehr nur professionelles Interesse, das einen zuhören lässt.

Klar, es ist immer noch eine Recherche. Aber nicht mehr eine um jeden Preis. Ich sage: "Hey, Jungs, nehmt doch diese Bahn."

Es sind heikle Fragen für den Reporter

Die wichtigen Fragen stellen sich dann am nächsten Tag. Ibrahim und Wesam wollen weiter, aber wohin? England? Schweden? Dänemark? Schweiz? Deutschland? Die beiden Männer haben nur sehr diffuse Vorstellungen von diesen Ländern. Sie tauschen sich mit anderen Flüchtlingen aus, sie rufen Bekannte an, die schon am Ziel sind, sie befragen das Internet, und sie befragen mich. Es sind heikle Fragen für den Reporter. Ich erzähle, was ich weiß über diese Länder und achte darauf, dass ich die Entscheidung nicht beeinflusse.

Irgendwann sagt Ibrahim: "Wesam und ich haben uns für Deutschland entschieden, endgültig." Das Verfallsdatum dieser Entscheidung ist schnell erreicht. Wieder geht es hin und her. Am Ende ist es doch Deutschland, aber wohin in Deutschland? Wo sind die Jobs? In Dortmund? In Berlin? In Hamburg? In Bayern? In Leipzig? Für den Reporter wird es eine Prüfung im Fach Heimatkunde, und dann wird es noch heikler, nun geht es um die Fluchtroute. Staatsgrenzen werden zu überqueren sein, illegal, und es soll natürlich alles glatt laufen.

Ich halte mich heraus so gut ich kann, aber ich denke: Hoffentlich schaffen sie es. Beide haben viel riskiert für ihre Sehnsucht nach einem Leben in Sicherheit, beide wären auf der monatelangen Flucht beinahe umgekommen, ich finde, ihre Geschichte hat ein gutes Ende verdient. Ich wünsche es ihnen, allerdings trage ich nichts bei zur Erfüllung dieses Wunsches. Bei aller Sympathie, ich weiß, was geht und was nicht geht.

Nur einmal greife ich aktiv ein, aber da geht es nicht darum, den Flüchtlingen zu helfen, sondern mir selber.

Paris, Ostbahnhof, Fahrkartenschalter. Beim Aufbruch in Mailand hat sich Ibrahim und Wesam noch eine junge Syrerin namens Noor angeschlossen. Seither sind wir zu Viert. Die Überquerung der Grenze nach Frankreich hat problemlos geklappt, die Zugfahrt nach Paris ebenfalls. Nun sind Tickets zu kaufen für den Nachtzug nach Hamburg. In den Abteilen sind jeweils vier Liegen, und ich sehe mit Sorge, was passieren könnte, wenn wir die Tickets getrennt kaufen, so wie wir das bisher praktiziert haben, in Mailand, in Ventimiglia, in Nizza. Ibrahim, Wesam und Noor könnten in einem Abteil landen, in dem eine Liege bereits belegt ist. Für mich wäre dann kein Platz mehr, und ausgerechnet in der entscheidenden Phase dieser Reise wäre ich von den anderen getrennt.

Deshalb sage ich: "Hört zu, ich glaube, es ist günstiger, wenn ich die vier Tickets kaufe, Ihr zahlt mir das Geld danach dann zurück." Genauso passiert es. Der Zug fährt pünktlich um 20.05 Uhr los, aber es wird eine kurze Fahrt, viel zu kurz gemessen an den Hoffnungen und Erwartungen der drei Reisenden in meinem Abteil. An der ersten Station nach der Grenze, im deutschen Kehl, werden Ibrahim, Wesam und Noor von zwei deutschen Polizisten sehr unsanft aus dem Zug geholt und abgeführt. Als ich hinterher will, hat sich der Zug bereits wieder in Bewegung gesetzt.

Ich könnte mich nun wieder aufs Ohr legen und weiterfahren. Und warum nicht? Was zu recherchieren war, ist recherchiert, eine Flucht längs durch Europa ist dokumentiert vom Anfang bis zum Ende, Mission erfüllt, und nie würde es Scherereien mit der Staatsanwaltschaft geben. Aber es käme mir unanständig vor. Nähe, einmal hergestellt, lässt sich nur schwer wieder in Distanz verwandeln. Der nächste Haltepunkt ist Karlsruhe. Ich steige aus und nehme ein Taxi zurück nach Kehl.

Die Polizeistation ist direkt gegenüber vom Bahnhof. Ich sage, ich sei eine Reisebekanntschaft der drei Syrer, und ich machte mir Sorgen um sie. Es ist drei Uhr nachts, die Polizisten betrachten mich wie ein Fabelwesen und sagen, alles ginge seinen normalen Gang, und wenn ich warten wolle, dann bitte draußen. Es ist kalt, Kehl liegt im Tiefschlaf, ein Hotel ist nicht zu sehen, und es hätte auch keinen Sinn, eins zu nehmen. Ich könnte Ibrahim, Wesam und Noor verpassen, wenn sie freikommen.

Der Polizist scheint bereits Verdacht geschöpft zu haben

Um sieben Uhr macht das Bistro im Bahnhof auf. Ich setze mich so, dass ich das Revier im Blick habe. Gegen neun Uhr kommen zwei Polizisten und sagen, ich könnte jetzt den Chef der Polizeistation sprechen. Es gäbe Fragen zu stellen, aber stattdessen werde ich ausgefragt. Ich habe zwei Nächte hintereinander in Bahnhöfen herumgelungert, zuerst in Ventimiglia und jetzt in Kehl, ich bin so müde, dass ich erst mit Verzögerung merke, wie der Polizist mich ins Plaudern bringt. Da scheint er aber bereits einen Verdacht geschöpft zu haben.

Am späteren Vormittag kommen Ibrahim, Wesam und Noor aus der Polizeistation und werden von zwei Polizisten über die Straße zum Bahnsteig geleitet, wo sie den nächsten Zug nach Karlsruhe nehmen sollen, zur Landesaufnahmestelle. Die drei bieten einen traurigen Anblick. So einen Empfang hatten sie sich nicht vorstellen können. Vor der Gewalt in Syrien waren sie geflohen, und nun ist ihr erster Aufenthaltsraum in Deutschland ein kalter Kellerraum, keine Decken, keine Toilette, nichts zu essen, nichts zu trinken. Mit Gewalt werden sie gezwungen, sich ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen. Einer sagt später, es hätte sich angefühlt, als wollten sie seinen Arm brechen.

Ein knappes halbes Jahr ist das jetzt her, Ibrahim und Wesam sind inzwischen angekommen in Deutschland. Beide haben einen legalen Status für zunächst drei Jahre und leben in zwei verschiedenen deutschen Großstädten. Wesam noch im Lager, Ibrahim in einer Wohnung, sehr bescheiden, aber immerhin. Mit beiden bin ich in Kontakt, den zu Noor habe ich verloren. Den Empfang in Kehl versuchen Ibrahim und Wesam zu vergessen, für mich blieb die Frage, was aus dem Ermittlungsverfahren werden würde.

Die Ungewissheit dauert Monate. Kurz vor Ostern kommt ein Brief von der Staatsanwaltschaft Offenburg. Darin steht, das Ermittlungsverfahren "wegen Einschleusens von Ausländern" werde eingestellt. Zur Begründung heißt es, ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung sei nicht gegeben. Der Beschuldigte sei "journalistisch tätig gewesen", auch sei er "bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten." (Zu ihrem Schutz wurden die Namen der Protagonisten geändert).

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Quelle:
SZ vom 11.04.2015
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