Quiz mit Stromschlägen:Fernsehspiel mit dem Tod

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"Sie müssen bis zum Ende gehen": Ein modernes Milgram-Experiment schockiert Frankreich. Es zeigt, dass TV-Kandidaten nicht davor zurückschrecken, Mitspieler mit Stromschlägen zu foltern.

S. Ulrich

Gehorsam oder Gewissen, das ist der Gegensatz, um den sich das Milgram-Experiment dreht. Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram entwickelte es Anfang der sechziger Jahre, um herauszufinden, was durchschnittliche Menschen alles anrichten, wenn eine respektierte Obrigkeit es befiehlt. In dem Experiment wurde den Testpersonen eingeredet, sie müssten zu Forschungszwecken anderen Leuten immer stärkere Stromschläge erteilen. Das Ergebnis verstörte die Öffentlichkeit. 65 Prozent der Probanden gingen soweit, Schläge bis zur Höchststufe von 450 Volt zu erteilen.

Der französische Filmemacher Christophe Nick hat diesen Versuch jetzt in einem anderen Kontext wiederholt. Die Autorität ist hier nicht mehr die Wissenschaft, sondern das Fernsehen. Das Resultat: Diesmal haben 81 Prozent der Versuchspersonen die "Höchststrafe" vollstreckt. Nick folgert, die Menschen seien durchs Fernsehen derart an Gewalt und Voyeurismus gewöhnt, dass man im TV sogar eine Hinrichtung inszenieren könnte. Er sagt: "Das Fernsehen kann fast jeden dazu bringen, alles zu machen."

Der Filmemacher warb für seinen Versuch Freiwillige mit einem Casting an. Den Leuten wurde mitgeteilt, sie sollten an der Pilotsendung für eine neue Fernsehshow namens La Zone Extrême mitwirken. Dabei müsse sich ein Kandidat Begriffe merken und wiedergeben. Bei Fehlern werde er mit Stromschlägen von 20 bis zu 460 Volt bestraft. Nick und sein Wissenschaftlerteam hatten keine Probleme, 80 Freiwillige zu finden und in die vermeintliche Show zu schicken.

Eine schrille Studiobühne, eine hübsche Moderatorin, ein johlendes Publikum - das Übliche scheinbar. Die Testpersonen mussten sich an ein Pult mit Stromhebeln setzen. Neben ihnen wurde der Kandidat auf einem elektrischen Stuhl festgeschnallt und unter einer Metallglocke verborgen. Die Probanden konnten ihn nicht sehen, aber hören. Sobald er eine Frage falsch beantwortete, befahl die Moderatorin, ihm einen Stromschlag zu versetzen. Anfangs stöhnte der Kandidat noch und rief: "Das tut wirklich weh." Später schrie er vor Schmerzen und flehte, das Ganze abzubrechen. Doch die Moderatorin feuerte, unterstützt vom Publikum, die Testperson an: "Lassen Sie sich nicht beeindrucken! Sie müssen bis zum Ende gehen!" Bei 380 Volt war von dem Kandidaten nichts mehr zu hören. Dennoch schickten ihm vier Fünftel der Testpersonen einen Schlag von 460 Volt hinterher. Etliche zögerten zwar, versuchten zu mogeln oder die Moderatorin umzustimmen. Doch am Ende griffen sie zum Hebel. Dabei wussten sie nicht, dass der Stromschlag fingiert und der vermeintliche Kandidat ein Schauspieler war.

Spiel mit dem Tod

Der staatliche Sender France 2 wollte das schauerliche Experiment am Mittwochabend als Dokumentarfilm mit dem Titel Spiel des Todes ausstrahlen. Ein Sprecher erklärte dazu: "Dies (die Testpersonen) sind weder Sadisten noch Feiglinge, sondern ganz normale Leute. 80 Prozent von ihnen haben sich wie mögliche Folterknechte verhalten. Das zeigt die furchterregende Macht, die das Fernsehen erlangt hat."

In Frankreich entfesselte die Dokumentation schon vor der Ausstrahlung eine Debatte. Etliche Journalisten und Wissenschaftler teilen die These von Christophe Nick, das Fernsehen, insbesondere das private, sei auf gefährlichen Abwegen. Es würden immer mehr Perversitäten, Erniedrigungen und Gewalttätigkeiten inszeniert. Wohin das führen könne, zeige das Experiment.

Andere kritisieren, bei Spiel des Todes gehe es nicht um Erkenntnis, sondern um Ideologie und einen Angriff auf die Privatsender. Dabei würden die Testpersonen manipuliert. Und dennoch: Wer sie in Spiel des Todes beobachtet, dürfte künftig mit anderen Augen fernsehen. Der Nouvel Observateur fragt: "Wie hätten wir an ihrer Stelle gehandelt? Hätten wir die Kraft gefunden, ungehorsam zu sein?"

© SZ vom 18.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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