Proteste gegen Zensur in China:Wenn Träume ausradiert werden

Proteste gegen Zensur in China: Demonstranten vor dem Redaktiongebäude der Zeitung Südliches Wochenende (Nanfang Zhoumo) in Guangzhou: "Wir brauchen keine Flugzeugträger, wir brauchen eine Zeitung, die die Wahrheit schreibt."

Demonstranten vor dem Redaktiongebäude der Zeitung Südliches Wochenende (Nanfang Zhoumo) in Guangzhou: "Wir brauchen keine Flugzeugträger, wir brauchen eine Zeitung, die die Wahrheit schreibt."

(Foto: AFP)

Lob für die Partei statt einer Forderung nach dem Schutz von Persönlichkeitsrechten: Chinas Zensoren tauschten einen Leitartikel der Zeitung "Südliches Wochenende" aus. Daraufhin taten die Journalisten etwas Einmaliges - und traten in den Streik. Es ist der erste große Test für die neue Führung in Peking.

Von Kai Strittmatter, Peking

Verfassung der Volksrepublik China, Artikel 35: "Die Bürger der Volksrepublik China genießen die Freiheit der Rede, der Publikation, der Versammlung, der Vereinigung." Es ist wohl kein Zufall, dass die erste große Krise, mit der sich Chinas Partei- und Staatsführung im neuen Jahr konfrontiert sieht, ihren Ursprung in einem Zeitungsartikel hat, der nichts anderes verlangte, als dass China seine Verfassung einmal ernst nehmen sollte. Das Südliche Wochenende, eine der bekanntesten Zeitungen des Landes, hatte für ihre Leser einen Leitartikel zum neuen Jahr vorbereitet, in dem sie kühn den "Traum vom Regieren nach der Verfassung" ausmalte, von einem China, in dem die Macht Schranken hat und die Rechte der Bürger beschützt werden.

Das Südliche Wochenende, herausgegeben in Guangzhou, ist eine der mutigsten und einflussreichsten Zeitungen Chinas. In einem Land, in dem die Medien "Kehle und Zunge" der Partei sein sollen, sind ihre investigativen Reportagen legendär, und ihre Neujahrsgrüße bekannt dafür, rhetorische Paukenschläge im Kampf für mutige Reformen zu sein. In diesem Jahr aber war alles anders: Die 1,5 Millionen Käufer bekamen einen Leitartikel zu lesen, von dessen Existenz noch bis Redaktionsschluss selbst die meisten Redakteure keine Ahnung hatten, und in dem keinesfalls von einem neuen China geträumt wurde. Stattdessen stand da eine Hymne auf die Herrschaft der Kommunistischen Partei unter der Überschrift: "Wir sind unserem Traum näher als je zuvor." Die Zensoren vom Propagandaamt der Provinz hatten ohne Wissen der Redaktion den Leitartikel ausgetauscht.

Und so begann das Jahr 2013 in Guangzhou statt mit einem idealistischen Aufruf zur Hoffnung mit einem krassen Eingriff der KP-Zensoren in die ohnehin beschränkte Unabhängigkeit chinesischer Redaktionen. Noch wichtiger aber: Im Verlauf der vergangenen Tage hat sich das, was als interner Konflikt zwischen Redaktion und Zensoren begonnen hatte, zu einem ersten großen Test für die neue Pekinger Führung unter Generalsekretär Xi Jinping ausgewachsen - außerdem zu einer Lehre für Chinas Propagandabeamte, wie Krisenmanagement in Zeiten sozialer Netzwerke garantiert nicht funktioniert: Nachdem die erste Protestwelle gegen die Zensur der beliebten Zeitung über Weibo schwappte, Chinas Version von Twitter, kaperten die Zensoren am Samstag auch noch das Weibo-Konto der Redaktion und setzten darauf die falsche Nachricht ab, wonach die Redakteure selbst den Propaganda-Leitartikel abgesegnet hätten. Nun eskalierte der Konflikt erst richtig.

"Für ein Leben in Wahrheit"

Zuerst taten die Journalisten des Südlichen Wochenendes etwas Einmaliges: Aus Protest traten sie in den Streik. Sie fordern den Rücktritt des Propagandachefs der Provinz, Tuo Zhen, dem Kritiker vorwerfen, er habe die Zensur seit seinem Amtsantritt im Mai erheblich verschärft. Und dann überschritt der Streit in Windeseile die Grenzen der Redaktion und auch der Stadt. Studenten aus Guangzhou und Intellektuelle aus Peking veröffentlichten offene Briefe, Blogger riefen in flammenden Worten zur Unterstützung der Zeitung auf, und am Montag trafen sich mehrere Hundert Unterstützer vor dem Redaktionsgebäude. Viele junge Leute, gar Gymnasiasten in Schuluniform. Sie legten Chrysanthemen nieder, den Chinesen von alters her Symbol dafür, wie blühendes Leben auch den härtesten Winter überlebt.

Viele hielten selbstgemalte Pappschilder in die Kameras der Smartphones, mit denen die Botschaften sich sofort im ganzen Land verbreiteten: "Schafft die Zensur ab", "Gegen das Schweigen, für die nächste Generation", "Für ein Leben in Wahrheit". Manche trugen Mundschutz, auch der vielen fotografierenden Polizisten wegen, andere traten vor die Beamten und hielten ihr Gesicht und ihr Protestschild direkt in deren Kameras.

"'Freie Medien' können schlicht nicht existieren"

Chinas bekanntester Blogger, der junge Rennfahrer und Autor Han Han, und der Autor Li Chengpeng verfassten wie viele andere Appelle, die Zeitung zu unterstützen, nur um ihrerseits ihre Blogs und Tweets umgehend wieder von der Zensur gelöscht und blockiert zu sehen. "Wir brauchen keine Flugzeugträger", schrieb Li Chengpeng, "wir brauchen eine Zeitung, die die Wahrheit schreibt." Die Solidarität ging diesmal weit über die üblichen Verdächtigen aus dem Kreis liberaler Intellektueller hinaus. Die Schauspielerin Yao Chen, deren Weibo-Konto mehr als 31 Millionen Nutzer folgen, zitierte Alexander Solschenizyn: "Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt."

In einem offenen Brief von Studenten der Sun-Yat-sen-Universität heißt es: "Wir können weiter still bleiben und nachgeben, wenn die Macht um sich schlägt. Aber wenn wir das tun, dann erwartet uns ein Abgrund." Ein am Sonntag veröffentlichter offener Brief prominenter liberaler Ökonomen, Juristen, Soziologen und Autoren fordert ebenfalls die Absetzung von Propagandachef Tuo Zhen und verweist auf die Symbolkraft der Provinz Guangdong, die seit den Zeiten Deng Xiaopings für Reform und Öffnung gestanden habe.

Tatsächlich hatte Chinas neuer Führer Xi Jinping selbst mit dieser Symbolik gespielt, als er sich als Ziel seiner ersten Reise nach seiner Machtübernahme im November auf die Spuren Deng Xiaopings begab und die Stadt Shenzhen besuchte. Von Xi selbst gibt es bislang kein Wort zu den Vorkommnissen, Beobachter erwarten sich vom Fortgang der Affäre Hinweise auf die künftige Politik des Parteichefs. Bislang ist Xi vor allem durch nationalistische Rhetorik aufgefallen, daneben halten sich kleine Indizien auf Reformlust mit öffentlichen Schwüren auf den alten "Sozialismus chinesischer Prägung" die Waage.

Die erste Reaktion der KP-Zentrale stimmt nicht hoffnungsfroh. In einem Edikt der Pekinger Propagandazentrale, das am Montag an alle Reaktionen im Lande verschickt wurde, hieß es gar, die Vorgänge beim Südlichen Wochenende seien ein Resultat "der Einmischung feindlicher ausländischer Kräfte". Und: "Die Kontrolle der Medien durch die Partei ist ein unerschütterliches Prinzip." Das Memo verlangt von den Redaktionen in ganz China, ihre Journalisten müssten unverzüglich aufhören, sich solidarisch mit dem Südlichen Wochenende zu zeigen.

Von zivilem Ungehorsam begleitet

Außerdem macht das Edikt allen Zeitungen und Webseiten den Nachdruck eines Kommentars aus der Global Times zur Pflicht, in dem die Verteidiger der Pressefreiheit als kleines Grüppchen weltfremder Saboteure der Stabilität im Lande dargestellt werden: "'Freie Medien' wie diese Leute sie sich wünschen, können schlicht nicht existieren", heißt es in dem Kommentar. Und: "Selbst im Westen würde sich kein Mainstream-Medium offen gegen die Regierung stellen." Aber selbst der pflichtgemäße Nachdruck des Global Times-Propagandastücks wurde von zivilem Ungehorsam begleitet: Alle großen Netzportale brachten den Kommentar - und alle stellten sie eine Fußnote dazu, mit der sie sich gleichzeitig distanzierten: "Weder teilen wir diese Meinung noch stehen wir hinter dem Inhalt des obigen Textes."

Am Donnerstag soll eigentlich die nächste Ausgabe des Südlichen Wochenendes erscheinen. Ob es dazu kommt, war am Dienstagabend nicht gewiss. Redaktion und Propagandabehörde verhandeln.

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