Muhammad Ali sitzt in einem Sessel und will seinen Mund dazu bringen, das zu sagen, was sein Gehirn diktiert. Das fällt ihm schwer, und es bricht einem ein bisschen das Herz. Weil der Boxer doch immer eine Antwort auf alles hatte, im besten Fall war sie sogar gereimt.
Diesmal allerdings sind seine Antworten vielmehr ein Nuscheln. Trotzdem stellt er sich den Fragen des Sportreporters Bryant Gumbel und spricht mit ihm über seinen Kampf mit der Parkinsonerkrankung.
1991, als das Interview stattfand, war die Szene noch ein eher seltener Moment auf den Bildschirmen überall auf der Welt. Heute hingegen teilen Prominente in TV-Sendungen, Dokumentationen, auf Youtube, Instagram und Facebook nicht mehr nur Glamour und Ruhm - sondern auch ihre Krankheitsverläufe. Diagnosen, Therapie und Heilung waren medial noch nie so präsent wie heute.
Direkt aus dem Aufwachraum postete Sängerin Selena Gomez 2017 auf Instagram nach einer Organtransplantation ein Foto von sich. Eine Freundin hatte ihr wegen einer Autoimmunerkrankung eine Niere gespendet. Autorin Lena Dunham dokumentierte 2018 im Fotonetzwerk, dass ihr ein Eierstock entfernt wurde. Schauspielerin Selma Blair ließ sich während eines aggressiven Schubs von Multipler Sklerose für die Sendung Good Morning America interviewen. Und Comedian Shahak Shapira sorgte bei der Premiere seiner Show Shapira Shapira für einen Überraschungsmoment, als er seine Gags unterbrach und dem Publikum seine Therapiesitzung wegen einer Depression präsentierte. "Nichts, was ich mache, macht mich glücklich," hört man ihn sagen.
Krankheit ist heute etwas weniger Tabu als im Jahr 1991, und bisweilen ist sie auch ein Verkaufsargument auf dem ins Internet gewachsenen Marktplatz der Aufmerksamkeit. Vielleicht, weil Schwäche immer auch ein Beleg für Authentizität ist. Und weil Perfektion in Zeiten von Retusche und Filtern überall ist. Was aber bewirkt es beim Publikum, wenn Erkrankungen auf diese Weise präsent sind?
Auf diese Weise werden Tabus gebrochen, aber auch Mythen verbreitet und Ängste geschürt
Als Schauspielerin Angelina Jolie im Jahr 2013 in der New York Times über ihre Entscheidung schrieb, sich die Brüste amputieren zu lassen, um Brustkrebs vorzubeugen, ließen sich die Auswirkungen in den Jahren danach messen. Forscher der kanadischen Universität von Alberta veröffentlichten vier Jahre später eine Studie, die nachwies, dass sich die Zahl der Frauen, die bei sich entsprechende Gentests durchführen ließen, im angelsächsischen Sprachraum verdoppelt hatte, seit Angelina Jolies Bericht erschienen war.
"Daran hatte die Berichterstattung über das Thema ihren Anteil", sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Sabrina Kessler, die an der Universität Zürich zu Gesundheitskommunikation forscht. "Angelina Jolie und die New York Times haben damals versäumt einzuordnen, dass nicht einmal ein Prozent der Frauen von dieser spezifischen Brustkrebssorte betroffen ist. Das hat natürlich Ängste geschürt."
Promis können ihrer Darstellung von Krankheit im schlimmsten Fall Gesundheitsmythen streuen, die Berichterstattung darüber ohne fachliche Einordnung wirkt dann wie ein Verstärker. "Gefährlich wird es, wenn Dinge verbreitet werden, hinter denen keine wissenschaftliche Evidenz steckt. Das kann zu Hypes um Behandlungsmethoden führen, deren medizinischer Nutzen nicht erwiesen ist", sagt Kessler.
Ein weiteres Problem sehen Experten darin, dass Krankheitsbegriffe inzwischen inflationär oder falsch gebraucht werden - und abstumpfen. "Gerade Begriffe wie Schizophrenie oder Depression werden häufig ohne Fachwissen verwendet. Dann werden Definitionen vermischt, und es kann sein, dass Menschen, die tatsächlich unter den Krankheiten leiden, sich nicht mehr ernst genommen fühlen", sagt Tanja Kretz-Bünese, Psychologin der psychotherapeutischen Hochschulambulanz der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie betont aber auch, dass der enttabuisierende Effekt, den solche Berichte haben können, weitaus stärker sei als der bagatellisierende Effekt. Für sie überwiegt der Wert, dass sich Krankheitstabus, Vorurteile und Stigmata durch die mediale Präsenz verringern, wenn auch Promis von ihren Erfahrungen berichten. Silvia M., 35, hat vor zwei Jahren die Diagnose Multiple Sklerose bekommen.
Das Video von Selma Blair, das die Schauspielerin während eines aggressiven Schubs von Multipler Sklerose zeigt, hat M. auf Youtube gesehen, genau wie Millionen andere Menschen. Es zeigt die Frau, die mit dem Kinohit Eiskalte Engel berühmt wurde: Sie hat Schwierigkeiten beim Sprechen, sie zuckt, verliert die Kontrolle über ihren Körper. Silvia M. findet das Video gut. Es trage zur Entstigmatisierung der Diagnose bei, die sie mit der Schauspielerin gemeinsam hat. Denn die chronische Erkrankung ist für viele Betroffene nach wie vor ein Tabuthema. Deswegen will auch M. ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, sie hat nur ihr näheres Umfeld informiert. "Die Menschen, die sich in diesen Phasen befinden, gehen kaum an die Öffentlichkeit, geschweige denn auf die Straße - auch, weil es ihnen gar nicht möglich ist", sagt M.
Dass Menschen nach dem Video denken könnten, MS laufe genauso ab wie zum Beispiel bei Blair, findet M. nicht schlimm, weil die Schauspielerin keinen allgemeinen Anspruch erhebt: "MS ist nun einmal auch so", sagt M. Selma Blair spricht in dem Video an, dass es über die Erkrankung kaum pauschale Aussagen gibt und dass sie von Patient zu Patient unterschiedlich verläuft. Und damit macht sie das Wichtigste richtig.
Ein prominenter Mensch, der seine Krankheit medial sichtbar macht, zeigt immer nur einen von unzähligen möglichen Verläufen. Wenn das im Blick bleibt, können auch Betroffene ganz konkret von den geteilten Informationen profitieren.
Mikael Simons, Professor für molekulare Neurobiologie an der TU München sagt: "Mit das Schwierigste, wenn man eine chronische Krankheit hat, ist die Frage: Wie bewältigt man diese Krankheit - und wie geht man mit ihr im Alltag um?" Das könne mitunter entscheidender für die Lebensqualität sein als die tatsächliche Entwicklung der Erkrankung, so Simons. "Wenn man ein Beispiel vor sich hat von jemandem, der einen guten Weg gefunden hat, damit umzugehen, dann hilft das sehr. Gerade, wenn es sich um Menschen handelt, die trotz der Krankheit extreme Leistungen bringen."
Durch die sozialen Netzwerke hat sich die öffentliche Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit jedenfalls gewandelt. 1991 noch war Alis Parkinsonerkrankung ein seltener Anblick, heute finden sich unter dem Schlagwort #parkinson Hunderttausende sichtbare Schicksale auf Instagram - und ermöglichen damit ein differenzierteres Bild der Erkrankung.
Kommunikationsforscherin Kessler sagt dazu: "Früher hat sich das gesamte Krankheitsnarrativ in der Öffentlichkeit um ein Beispiel herum aufgebaut." Mit allen Nachteilen: Bei Muhammad Ali hieß es, er habe Parkinson, weil er geboxt hat - ein systematischer Zusammenhang sei jedoch nie bewiesen worden. Je mehr Vorbilder und prominente Fallbeispiele man kenne, sagt Kessler, desto richtiger wird das Krankheitsbild. "Und desto mehr Menschen können für Risiken und Krankheiten sensibilisiert werden."
Muhammad Ali war im Interview von 1991 übrigens gewohnt schlagfertig, obwohl ihm das Sprechen so schwerfiel. Als der Reporter feststellte: "Die Krankheit beeinträchtigt Ihre Fähigkeit zu sprechen, Ihre Bewegungen, Ihre Mimik", schwieg Ali kurz. Dann grinste er breit und zeigte, dass er seine Mimik sehr wohl noch unter Kontrolle hatte. Das Publikum wusste: Da sitzt immer noch der vorlaute Ali, der einmal vor einem Boxkampf gesagt hatte: "Ich bin so schlimm, dass sogar der Medizin von mir schlecht wird." Genau derselbe.