Süddeutsche Zeitung

Presseschau zur großen Koalition:"Der SPD-Chef setzt auf Risiko. Respekt"

Die SPD-Basis stimmt über den Vertrag ab, anschließend fallen erste Namen für Posten: Die große Koalition nimmt konkrete Formen an. Besonders zwei Dinge fallen Beobachtern dabei auf.

Die Stuttgarter Zeitung will vor allem zwei Dinge festhalten: "Erstens: Die SPD überlässt das wichtigste Ressort, das Finanzministerium, der Union. Damit kann Wolfgang Schäuble weiter über die Finanzen wachen - die allermeisten Deutschen werden das zu schätzen wissen. Zweitens: Parteichef Sigmar Gabriel wird selbst Minister in der Regierung von Angela Merkel und lässt sich damit in die Kabinettsdisziplin einbinden. Hätte er die Führung der Fraktion übernommen, wäre dies ein klares Signal gewesen, dass er mehr an die nächsten Wahlen und neue Koalitionspartner denkt, als an den Erfolg der großen Koalition. Jetzt verknüpft er seine persönliche Zukunft mit dem Wohl und Wehe dieser Regierung. Gabriel hat sich ein Superministerium zurecht geschnitten, das Energie und Wirtschaft vereint. Diese Aufstellung ist sinnvoll, unter Schwarz-Gelb hatte die Konkurrenz von Umwelt- und Wirtschaftsminister die Energiewende mehr behindert als befördert."

Als "einzigartiges Erfolgserlebnis für die SPD" stuft SWR-Korrespondent Claus Heinrich den Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag ein und schreibt weiter: "Die Risiken waren zunächst unüberschaubar und bis zum Schluss vorhanden. Aber gerade das hat ja auch den politischen Reiz der ganzen Aktion ausgemacht."

"Keine Revolution"

Auch die Berliner taz kommentiert den Mitgliederentscheid der SPD: "Nein, was die SPD in den vergangenen zwei Wochen vorgemacht hat, ist keine Revolution. Es ist ein ordentlicher Schritt in die richtige Richtung. Zunächst einmal war die Basis in ihrer Entscheidung nicht wirklich frei. Eine demokratische Abstimmung bekommt dadurch Relevanz, dass der Souverän zwischen echten Alternativen wählen kann. Das wäre zum Beispiel der Fall gewesen, wenn Gabriel die Mitglieder nach dem 22. September gefragt hätte, ob er über Rot-Rot-Grün oder über eine Große Koalition verhandeln soll. Das hat er sich aber nicht getraut. Und so hatte die Basis eben keine echte Alternative. (...) Gabriel verschweigt, dass er die Mitglieder von Anfang an in eine Zwangsjacke eingeschnürt hat."

Nach Ansicht der Wetzlarer Neuen Zeitung schmälert die Abstimmung den Einfluss der wählenden Bürger nicht. Die SPD habe lediglich mehr Genossen als die eines sonst üblichen Parteitages abstimmen lassen. "Hätte eine kleinere Gruppe abgestimmt, wäre die Wirkung auf das Ja oder Nein zur Regierung mit der Union exakt dieselbe. Das Volk hat Parteien gewählt, keine Koalition. Was die Parteien daraus machen, ist ihre Sache. So funktioniert Demokratie.

Die Rheinische Post widmet sich Gabriel: "Na endlich! Fast drei Monate nach der Wahl sehen die Bürger, wer sie als Ergebnis ihrer Stimmabgabe die nächsten vier Jahre regieren soll. Die drei Parteichefs hatten sich versprochen, während des SPD-Mitgliederentscheids nichts durchsickern zu lassen um zu prüfen, wie verlässlich sie sind. Der Test ist gelungen. Vielleicht auch deshalb, weil sie die Ämter-Verteilung tatsächlich erst sehr spät festzurrten. Jedenfalls hat die SPD einen Proporz hinbekommen, der sich sehen lassen kann. Zwar galten wichtige Personen wie Manuela Schwesig (Familie) und Andrea Nahles (Arbeit) als gesetzt. Doch es gibt auch Überraschungen: Dass Barbara Hendricks neue Umweltministerin wird und aus dem Saarland Heiko Maas als Justizminister ins Kabinett einrückt, war in keiner Spekulation enthalten. Am mutigsten ist der SPD-Chef selbst. Sigmar Gabriel hat sich gegen ein Ministerium mit Sympathie-Wahrscheinlichkeit entschieden und übernimmt stattdessen das mit Widerstandsgarantie verknüpfte Ressort für Wirtschaft und Energie. Wenn er das meistert, hat er das Image der SPD an entscheidender Stelle aufpoliert."

Die Lübecker Nachrichten sehen Gabriel als vorraussichtlichen Superminister für Wirtschaft und Energie vor großen Herausforderungen. Der SPD-Chef verantworte nicht nur die komplette Energiewende, "er will auch wettmachen, was er als entscheidendes Defizit seiner Partei ausgemacht hat: die fehlende Wirtschaftskompetenz. Eine große Aufgabe - und ein großes Risiko, daran zu scheitern.

Die Neue Osnabrücker Zeitung bewertet die angebliche Dominanz der SPD: "Wieder einmal hat der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bewiesen, was er für ein politischer Fuchs ist. Indem die Sozialdemokraten ihre Ministernamen schon jetzt haben durchsickern lassen, dominieren sie die finale Phase der Regierungsbildung zu Beginn des Wochenendes und an dessen Ende. Jetzt die Kabinettsliste, später das Ergebnis des Mitgliederentscheids: Dass in diesen Tagen auch noch ein paar Unionsminister und damit Vertreter des haushohen Wahlsiegers Ämter zugeschlagen bekommen, geht darin völlig unter. Wie schon beim Erarbeiten des Koalitionsvertrags führt Gabriel die CDU-Chefin Angela Merkel mit seiner Raffinesse regelrecht vor."

Auch die Schwäbische Zeitung fokussiert Sigmar Gabriel: "Als Vizekanzler und Superminister für Wirtschaft und Energie ist er bald der Star des Bundeskabinetts. Er soll das Mammutprojekt Energiewende federführend umsetzen. Doch was so verlockend klingt, birgt auch ein hohes Restrisiko. Die Energiepolitik ist ein massiv vermintes Feld. Hier stoßen Interessen der Wirtschaft, der Politik und der Verbraucher knallhart aufeinander. Bislang jedenfalls existiert noch kein ausgewogenes Konzept für das nach Fukushima im Schweinsgalopp beschlossene Projekt. Gabriel kann deshalb auf der einen Seite glänzen, wenn ihm der große Wurf bei der Energiewende gelingt. Genauso schnell - und das ist wahrscheinlicher - kann sein in den letzten Monaten steil aufgegangener Stern aber auch wieder verglühen."

"Everyone wins as Germany gets the coalition it longs for", titelt der britische Guardian. Gabriel habe mithilfe des SPD-Mitgliederentscheids seine Position in den Koalitionsverhandlungen gestärkt, beobachtet die Zeitung. Allerdings habe seine Partei nicht das Finanzministerium bekommen. Da es nun womöglich weiter von CDU-Politiker Wolfgang Schäuble geleitet werde, werde Berlins Kurs in der Eurokrise wohl gleichbleiben. Ohnehin seien viele designierte Minister bekannte Gesichter. Die "einzigen Überraschungen" seien die Ernennung des "recht unerfahrenen" SPD-Politikers Heiko Maas zum Justizminister und dass auch Deutschland mit Ursula von der Leyen erstmals eine weibliche Verteidigungsministerin haben wird.

Auch bei der New York Times zeigt man sich "trotz des dreimonatigen Wartens" enttäuscht ob der wenigen neuen Personalien - staunt aber auch, dass nun eine Frau das deutsche Verteidungsministerium führen wird. Überdies würdigt die Zeitung den Eifer, mit dem Gabriel die Parteibasis von einer großen Koalition zu überzeugen suchte.

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