Süddeutsche Zeitung

Presseschau zum SPD-Parteitag:Zwischen Euphorie und Katastrophe

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In den Medien wird bundesweit und international die Entscheidung der SPD kontrovers diskutiert. Parteichef Martin Schulz kommt bei der Bewertung aber fast nie gut weg. Die Presseschau zum SPD-Parteitag.

Das knappe "Ja" der SPD zu Koalitionsverhandlungen mit der Union spaltet die Kommentatoren. Für manche ist es ein Schritt Richtung politischer Stabilität - für andere ein Aufbruch der Sozialdemokratie in noch unsicherere Zeiten. Ein Blick in die Presse.

So sieht Die Welt schon die Grandesse der SPD schwinden:

"Die SPD wird also weiter mit den Unionsparteien sprechen - mal defensiv verzagt gegenüber sich selbst, mal aggressiv gegenüber dem möglichen künftigen Koalitionspartner, und hat sich immer weiter in Richtung einer rein sozialpolitisch orientierten Klientelpartei verengt. Von einer Partei, die mit dem Anspruch diskutiert, eines Tages das Kanzleramt zu führen, verlangt man mehr."

Von Wollen könne bei der SPD nicht die Rede sein, findet die Frankfurter Allgemeine Zeitung .

"Die SPD ist sich ganz offenbar selbst nicht mehr im Klaren, unter welchen Voraussetzungen sie regierungswillig und regierungsfähig ist. Das ist das Ergebnis einer "Endlosschleife" der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligungen unter Angela Merkel, die der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert als eines der härtesten Argumente gegen eine Fortsetzung der großen Koalition aufbieten konnte: Eigentlich wollen wir ja gar nicht, aber wir müssen doch."

Auch sie sieht die SPD immer kleiner werden:

"Ein Zeichen von Selbstbewusstsein, wie es der Bonner Parteitag eigentlich setzen wollte, ist das nicht. Solange die SPD in Erwägung zieht, in den Worten Kühnerts, sich heute zum Zwerg zu machen, um morgen wieder ein Riese sein zu können, so lange bleibt selbst ein Zwerg schon ein Riese für die SPD."

Die Zeit nimmt die Entscheidung der SPD zum Anlass, nach der Zukunft der Partei zu fragen.

"Was tut der Partei perspektivisch gut? Konkreter: Wie kann sie wieder so stark werden, dass sie den Kanzler oder die Kanzlerin stellt? Antworten auf diese Fragen zu suchen macht mehr Sinn als auf die, ob ein weiterer Absturz eher in einer großen Koalition oder in der Opposition verhindert werden kann. Die letztere Frage konzentriert sich ängstlich auf das nächste Wahlergebnis. Doch längst geht es um mehr. Es geht um die Existenz der Partei. Es geht um die Frage, ob die SPD eine relevante politische Kraft in Deutschland bleibt oder wie etwa ihre Pendants in den Niederlanden und Frankreich verzwergt."

Die mangelnde Bereitschaft zu neuen Ideen in der Politik bemängelt der Kölner Stadt-Anzeiger .

"Die SPD muss endlich plausible Antworten auf die grundsätzlichen Fragen finden, altmodische Begriffe wie Daseinsvorsorge und Gemeinwohl mit neuen Inhalten zu füllen. Wir dürfen das nicht wieder verschlafen, hat der Parteichef den Delegierten zugerufen. Die Partei müsse Ideen- und Taktgeber für die Regierung sein. Dazu muss sie aber erst einmal eine Idee haben."

Einen taktischen Vorteil sieht dagegen die Mitteldeutsche Zeitung auf der Seite der Sozialdemokraten.

"Die SPD geht damit zwar als zerrissene Partei in die Koalitionsverhandlungen, aber auch mit einem taktischen Vorteil: Die Union hat kein Interesse an einer Neuwahl (von einzelnen Glücksrittern mal abgesehen). Sie muss die SPD also nun mit Vorsicht behandeln, wenn es funktionieren soll."

Die Zeitung Rheinpfalz prognostiziert aber auch zähe Koalitionsverhandlungen.

"Der SPD-Vorstand setzte sich beim Parteitag nur durch, weil er Forderungen der starken Landesverbände nachgab und der Union jetzt weitere Zugeständnisse abringen will. (...) Die Koalitionsverhandlungen werden deshalb zäh und schwierig werden, zumal die CSU wegen der bevorstehenden Landtagswahl vor allem die Interessen ihrer Wähler in Bayern im Blick behalten wird."

Der Standard aus Österreich freut sich zwar darüber, dass die Politik auch mal ein spannendes Spektakel bereit hält: "Da sage noch mal einer, Politik sei eine langweilige, weil ohnehin abgekartete, Sache. Mitnichten. Der SPD-Parteitag hat den Beweis geliefert."

Gleichzeitig weiß er, dass mit dem knappen "Ja" der Parteimitglieder nichts entschieden ist.

"Doch diese Lehrstunde in Sachen innerparteilicher Demokratie hat ihren Preis, und der war Parteichef Martin Schulz und seiner engsten Mitstreiterin, Fraktionschefin Andrea Nahles, trotz des Aufatmens anzusehen. Es war schon eine sehr große und wichtige Hürde, die sie am Sonntag in Bonn genommen hatten. Aber jeder weiß: Es ist nicht die letzte. Und das bedeutet: Die Schwierigkeiten gehen munter weiter."

Die Basler Zeitung attestiert Martin Schulz Lust- und Energielosigkeit.

"Die Rede Schulz', wohl seine wichtigste in seiner noch kurzen Präsenz als Parteipräsident (SPD-Chef) im Hinblick darauf, das Amt längerfristig zu besetzen, dauerte 55 Minuten und riss die Sozialdemokraten nicht von den Sitzen; es gab halbgaren Schlussapplaus, dazwischen höflichen, aber nicht enthusiastischen Szenenbeifall und nie Standing Ovations. Schulz gab sich unendlich Mühe, leidenschaftlich zu sein, aber er wirkte phasenweise wie ein Marktschreier, dessen Worte den Wert seiner Ware überstiegen."

Auch die französische Le Républicain Lorrain weist darauf hin, dass noch nichts entschieden ist.

"Noch bevor es an den Start geht, scheint das wahrscheinlich zukünftige Tandem Merkel-Schulz schon geschwächt. Beide haben ihren Kopf gerade so gerettet, obwohl die Wahl im Herbst weder für die CDU/CSU noch für die SPD ein Triumph war. Und auch heute sind sie noch nicht aus dem Schneider."

Die italienische Zeitung La Repubblica dagegen schreckt nicht vor der großformatigen Beurteilung zurück: "Nach einem schwierigen Tag (...) ist es nicht übertrieben zu sagen, dass die 600 Delegierten für die Zukunft Europas gestimmt haben."

In Großbritannien schätzt der Guardian ein, dass sich ein großer Teil der SPD-Partei einen Ruck nach Links wünscht.

"Als Schulz sagte, er habe am Samstag einen Anruf des französischen Präsidenten Emmanuel Macron erhalten, ging ein sarkastisches Seufzen durch einige Ecken des Saales. Viele SPD-Mitglieder hätten es gern, dass ihre Partei eine offen links-orientierte Politik wie jene des britischen Labourführers Jeremy Corbyn verfolgt, statt dem Beispiel des zentristischen Präsidenten Frankreichs zu folgen."

In Russland weiß man dagegen, dass die Parteispitzen von SPD und CDU/CSU nicht auf ihre jeweilige Basis hören wollen. Die Nesawissimaja Gaseta schreibt:

"Es war zu erwarten: Der Sonderparteitag der SPD konnte den schwelenden Brand der Krise nicht zum Erlöschen bringen. Er zeigte nämlich die außergewöhnlich scharfe, widersprüchliche und politisch unverständliche Situation, in der die Hauptakteure alles dorthin lenken, wohin sie wollen. In erster Linie betrifft das die CDU/CSU, die SPD und ihre Anführer, Kanzlerin Angela Merkel und Martin Schulz. Sie haben den Vorsatz gefasst, die große Koalition gegen das Urteil der Wähler wieder neu zu schaffen."

In Spanien stimmen die Medien positivere Töne an. Die Zeitung El País sieht die Stabilität in Europa wieder einkehren.

"Dies ist eine gute Nachricht, die Stabilität für den Motor der EU verspricht, in einem Moment, in dem diese so komplizierte Dinge wie den Brexit und die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion angehen muss."

Und El Mundo atmet bei der Entscheidung der SPD auf.

"Die deutsche Wirtschaft hat weiter eine gesunde Wachstumsrate und die Arbeitslosigkeit ist auf ein beneidenswertes Niveau gefallen. Aber das Land braucht Stabilität und muss aus der politischen Sackgasse heraus, um diesen Kurs zu halten. Wir wissen, dass die europäische Lokomotive mit voller Leistung fahren muss, damit alle Waggons der EU gut laufen können. Deshalb lässt die gestrige Entscheidung des SPD-Parteitages aufatmen."

Die belgische De Tijd macht klar, dass es ein solches Ringen um eine Koalition in der jüngeren deutschen Geschichte noch nie gab.

"Ein Versagen können sich die Parteien nicht leisten, denn ein Misslingen würde Neuwahlen bedeuten. Und das hat es in der jüngeren deutschen Geschichte noch nicht gegeben. Darum wird verhandelt werden bis letztendlich jemand den Stecker zieht. Oder bis ein Kompromiss gefunden wurde."

Mit Material der Agenturen

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