Presseethisch sei alles zulässig gewesen: Drei Monate nach der Veröffentlichung des Bild-Artikels "Die Lockdown-Macher" kommt der Deutsche Presserat zu dieser Entscheidung. Das Organ der freiwilligen Selbstkontrolle der Medien weist alle Beschwerden gegen den Artikel vom 4. Dezember als "unbegründet" zurück.
Der Artikel war nicht nur von einer breiten Leserschaft, sondern auch von deutschen Wissenschaftsinstitutionen scharf kritisiert worden. Bis Mitte Dezember waren 94 Beschwerden beim Deutschen Presserat eingegangen. Stets ging es um die Frage, ob die Redaktion der Sorgfaltspflicht und dem Wahrhaftigkeitsgebot nachgekommen sei. Denn den Lesern werde mit der Überschrift suggeriert, Wissenschaftler seien verantwortlich für Entscheidungen der Politik. So kritisierte es die Berliner Humboldt-Universität, die zu den prominentesten Beschwerdeführern gehörte.
Die Universität, deren Physiker Dirk Brockmann in dem Artikel genannt wurde, veröffentlichte auch ein Statement: "Diese Art der Berichterstattung ist weit entfernt von jeder journalistischen Redlichkeit", hieß es dort. Forschende würden "markiert". Ein breites Bündnis von Wissenschaftsorganisationen rief in einem gemeinsamen Appell zu mehr Sachlichkeit in der Corona-Berichterstattung auf. Zu den Unterzeichnern gehörten etwa die Leopoldina, die Max-Planck-Gesellschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die Hochschulrektorenkonferenz. Die Organisationen befürchten, Berichte wie der Bild-Beitrag könnten zu einem Meinungsklima beitragen, "das an anderer Stelle bereits dazu geführt habe, dass Wissenschaftler sich demnach physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sahen oder bedroht wurden".
2021 gingen 26 von 60 Rügen auf das Konto der "Bild"-Medien
Nun stellt der Beschwerdeausschuss des Presserats fest: "Die von der Redaktion vorgenommene Bezeichnung der drei Experten als 'Lockdown-Macher' hat einen Tatsachenkern und verletzt deshalb nicht die journalistische Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex." Der Einfluss der genannten Wissenschaftler auf politische Entscheidungen über Corona-Maßnahmen lasse sich belegen. "Die Bezeichnung 'Die Lockdown-Macher' ist daher eine zulässige Zuspitzung, die pointiert und streitbar sein mag, jedoch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist", heißt es in einer Presserats-Mitteilung.
Die Mitglieder des Presserats kamen zudem mehrheitlich zu dem Schluss, dass auch die bildliche Darstellung der Wissenschaftler zulässig gewesen sei und nicht das Ansehen der Presse nach Ziffer 1 des Pressekodex beschädige. "Durch ihre Auftritte in den Medien während der Corona-Pandemie haben sich die Experten selbst in die Öffentlichkeit begeben und müssen es hinnehmen, auch persönlich kritisiert zu werden", heißt es dazu.
Die Bild hatte bereits vorab auf die Kritik reagiert: Ende Januar hatte sie zu einer Talkrunde mit Vertretern der Wissenschaft geladen. Auch zwei der als "Lockdown-Macher" angeprangerten Forschenden nahmen teil. Bild-Chefredakteur Johannes Boie zeigte sich dort reumütig, nannte den Artikel "absolut unglücklich". Er "würde ihn so nicht noch einmal drucken". Eine Entschuldigung war das zwar nicht, aber dass Deutschlands größtes Boulevardmedium Fehler einräumte, war in diesem Stil neu. Ein Zeichen nach außen, dass fortan eine offenere Streitkultur mit Dialogangebot entstehen könnte.
Beim Presserat allerdings hat die Bild-Zeitung 2021 dennoch einen Rekord zur Jahresbilanz der Strafmaßnahmen beigetragen: Von insgesamt 60 ausgesprochenen Rügen gehen 26 auf das Konto von Bild, Bild Online und Bild am Sonntag. Die übrigen 34 Rügen betreffen 31 verschiedene Medien.
Am häufigsten rügte der Presserat im vergangenen Jahr Verletzungen des Persönlichkeitsschutzes nach Ziffer 8 des Pressekodex - 22 Rügen wurden dazu insgesamt ausgesprochen. Gleich zwei schwere Verstöße sah er beispielsweise in der Berichterstattung auf Bild.de über die Trennung des Fußballers Jérôme Boateng von seiner Ex-Freundin. Über mögliche psychische und körperliche Krankheiten dürfe nicht ohne Zustimmung der Betroffenen berichtet werden, heißt es zur Erklärung. Als "besonders schwerwiegend" beurteilte der Presserat zudem die wiederholte Veröffentlichung von Fotos eines fünfjährigen Jungen in den Bild-Medien, der als Einziger ein Seilbahnunglück in Italien überlebt hatte.
Die meisten Beschwerden zu Corona-Berichten waren unbegründet
Die meisten Presseratsbeschwerden gab es im vergangenen Jahr zur Corona-Berichterstattung. Aber: Häufig wurden sie als unbegründet erachtet. Beschwerdeführer vermuteten dem Presserat zufolge etwa falsche Angaben zur Belegung von Intensivbetten, Impfnebenwirkungen und zur Hospitalisierung. Andere Leser hätten den Wahrheitsgehalt von zitierten Studien und wissenschaftlichen Aussagen hinterfragt. Manche sehen ihre eigene Ehre nach Ziffer 9 verletzt oder fühlen sich durch Bezeichnungen wie "Impfgegner" diskriminiert. Insgesamt erhielt der Presserat 457 Einzelbeschwerden und prüfte 294 Artikel. "Bei mehr als 60 Prozent dieser Beiträge wurde bereits in der Vorprüfung deutlich, dass sie nicht gegen den Pressekodex verstießen", heißt es in der Jahresbilanz. Für irreführende Überschriften, Artikel über angebliche Heilmittel und falsch zitierte Studien erteilte der Rat jedoch insgesamt fünf Rügen.
Als "schweren Verstoß gegen das Wahrhaftigkeitsgebot" etwa wurde die Bild.de-Corona-Schlagzeile "Experten sicher: RKI-Zahlen stimmen nicht - es sterben weniger Menschen, als täglich gemeldet werden" gewertet. Diese Überschrift ist dem Presserat zufolge irreführend gewesen, da sie suggeriere, dass die Zahlen des Robert-Koch-Instituts sachlich falsch seien und die Gefahr einer Infektion geringer sei als angenommen. In Wirklichkeit sei es in dem Artikel aber darum gegangen, dass die Gesundheitsämter dem RKI die Todeszahlen verzögert meldeten und die Zahlen deswegen nicht tagesaktuell seien. Diese Überschrift wog also deutlich schwerer als die "Lockdown-Macher".